Lucy Dacus

Historian

Matador/Rough Trade

Zu Recht von vielen Labels umworben: Die 22-jährige Amerikanerin entwirft ein originelles Indierock-Historiendrama

Was tun, wenn nach einem verlustreichen Jahr nur noch eine Scherbengemeinschaft übrig bleibt? ­Lucy Dacus hätte ihre Seelenverwandten Courtney Barnett, Nadia Reid und Julien Baker zum Selbsthilfe­kaffeekränzchen (no sugar, no milk) einladen können. Stattdessen hat sie die Splitter, die in kein Tagebuch passen, mit ihrem sanften Mitternachts-Indierock zu einer Karaffe zusammengeklebt – um daraus ein De­stillat aus hochprozentiger amouröser Enttäuschung, erstaunlicher Lebensklugkeit und zünftigem Gesellschafts-Anstich (nur ein kleines Fass) auszuschenken. „In five years/ I hope the songs feel like covers/ Dedicated to new lovers“, singt die 22-Jährige aus Richmond/Virginia auf „Historian“, um dessen Veröffentlichung sich mehr Labels gerissen haben, als Songs darauf zu finden sind.

Die Gründe dafür werden schon im elegischen Eröffnungsstück, „Night Shift“, offensichtlich: Melodien wie verwunschene Panoramawanderwege im ersten Licht nach einem Jahrhundertsturm, maßkonfektionierte Arrangements, die Dacus’ Gitarre trotzdem ganz casual zur Seite stehen, und Texte, deren warmherzige Nüchternheit und clevere Eloquenz, vorgetragen in gefasstem Alto, noch lange nachhallen. Wie schon ihr Debüt, „No Burden“ (2016), wurden auch die zehn neuen Songs von Collin Pastore behutsam, aber präzise produziert.

Emotionales Krisengebiet

Der Nachfolger ist dynamischer, großformatiger, selbstbewusster, facettenreicher (Kurzauftritte von Streichern und Bläsern), dramaturgisch stringenter geworden. Und sogar ein Konzept­album: ­Dacus schickt die Hoffnung in ein emotionales Krisengebiet und dokumentiert detailliert – wie eine Historikerin –, was passiert, wenn immer neue Erschütterungen und Verluste hinzukommen. Im anrührenden, sich kontinuierlich verdichtenden „Pillar Of Truth“ lässt sie das irdische Entschwinden ihrer Urgroßmutter Revue passieren, „Addictions“ enttarnt mitsamt perkussioniertem Zeitbombenticken das Gift der Gewohnheitsnähe („I’m just calling/ ’Cause I’m used to it/ And you’ll pick up/ ’Cause you’re not a quitter“). Außer­gewöhnlich: Dacus findet im Zerbrochenen das große Ganze.