Kritik: „Sandman“ – Staffel 1
Dream a little dream with me: Mit der Adaption des Kultcomics von Neil Gaiman versucht Netflix, es allen recht zu machen. Das könnte zumindest für unflexible „Sandman“-Jünger zum echten Albtraum werden.
Eine Zeit lang haben Comic-Fans noch träumen dürfen. Davon, dass für Neil Gaimans legendären „The Sandman“ im seriellen Kosmos endlich die richtige Form filmischer Umsetzung gefunden worden ist. Davon, dass Drehbuchautor und Produzent David S. Goyer („Dark Knight“-Trilogie, „Agent Nick Fury“) den guten Lauf, den er mit „Foundation“ für AppleTV hatte, auch zu Netflix hinüberrettet. Und den Traum von einem Streaminganbieter, der sich ausnahmsweise mal frei macht von dem Zwang, es allen recht machen zu wollen.
Spätestens mit dem heutigen Erscheinen der zehn Episoden der ersten Staffel muss man – zumindest für Fans der vielschichtigen und popkulturell einflussreichen Gaiman-Kosmologie – konstatieren: Dieser Traum ist ausgeträumt.
Und das nicht etwa, weil „The Sandman“ sich zu weit von der Vorlage entfernt. Im Gegenteil: Fast sklavisch genau erzählt man an den Comic-Kapiteln von „Präludien & Notturni“ und „Das Puppenhaus“ entlang, wie der Herr der Träume nach seiner jahrzehntelangen Einkerkerung sein Traumreich zurückerobern und die Welt vor wildgewordenen Albträumen und seinen Göttergeschwistern bewahren muss. Gegenüberstellungen von Comicpanels und Serienausschnitten sollten belegen, dass hier kaum ein Strich und Dialog geändert worden war.
Gaiman selbst wurde nicht müde, seiner Begeisterung über Besetzungsentscheidungen und Endergebnis medial Ausdruck zu verleihen. Trotzdem bleibt – zumindest Kennern der Vorlage(n) – die gesamte Welt merkwürdig fremd. Eine Cosplay-Oberfläche, die uns selten mal einen Blick in die Tiefe erlaubt.
Salvador-Dali-Gedächtnis-Traumwelten
Tom Sturridge wandelt als etwas zu attraktiver Emo-Dreamboy durch reale Szenerien und arg künstlich bleibende Salvador-Dali-Gedächtnis-Traumwelten. Gwendoline Christie kommt als Luzifer eine etwas bedeutendere Rolle zu, als in der Vorlage (etwa, wenn sie, anders als in den „Präludien“ persönlich zum Kampf gegen Morpheus antritt). Und aus Dämonenjäger John Constantine wird flugs seine weibliche Ahnin Joanna (wohl, weil bei DC gerade eine eigene „Constantine“-Serie in Planung ist).
Schon richtig: Diversität wird bei dieser Umsetzung ganz großgeschrieben. Und es passt durchaus zum Geist des „Sandman“, gut die Hälfte des Personals ihrer „weißen“ Wurzeln zu berauben und auch non-binäre Aspekte stärker zu betonen. Aber es riecht schon arg nach Zugeständnissen an ein schnell gelangweiltes Mainstream-Publikum, wenn der albtraumhafte Korinther (Boyd Holbrook) statt erst in der zweiten Hälfte schon von Beginn an zum großen Antagonisten aufgebaut werden muss. Wenn die weibliche Hauptfigur Rose Walker statt der eigenen Mutter eine attraktive Freundin zur Seite gestellt wird, der Rabe Matthew (im Original von Patton Oswalt gesprochen) schon (viel zu) früh als Comic Relief eingebaut wird und sich der Sandman zuweilen gar ein mildes Lächeln zum möglichen Happy-End abringen darf. Vom aufgesetzt wirkenden Cliffhanger in Richtung zweite Staffel ganz zu schweigen.
Ein wenig ist das Fantasy-Massenware
Was bleibt, ist eine Fantasy-Serie, wie sie Netflix derzeit im Dutzend produziert. Irgendwo zwischen „Supernatural“, „Locke & Key“ und „Charmed“ und als solches zumindest für die offenbar anvisierte Zielgruppe zwischen 16 und 26 ein wahrscheinlich unterhaltsames Emo-Märchen. Denn seien wir ehrlich: Mit der sehr lauten aber sicher nicht übergroßen Fanbase eines über 30 Jahre alten Comic-Klassikers lässt sich der Aktienkurs eines schwankenden Streaming-Giganten nicht nach oben treiben.
Das ist vor allem deshalb schade, weil immer wieder aufblitzt, was dieser „Sandman“ auch hätte sein können: Insbesondere im Gothic-Horror-artigen Auftakt und mit jenen zwei Episoden, die als Stand-Alone-Geschichten durchaus separat gekuckt und gewürdigt werden dürfen: Der schockierenden fünften Episode „24/7“ rund um das nihilistische Treiben des von David Thewlis brillant verkörperten John Dee. Und – gleich darauf folgend – „The Sound of Her Wings“, in der wir neben der Einführung von Morpheus‘ Schwester Death (Kirby Howell-Baptiste) einen fast schon warmherzigen Trip durch die Jahrhunderte erleben dürfen.
Mehr davon – und weniger nicht besonders überzeugend getrickstes Jenseits-Brimborium – hätte dem „Sandman“ gutgetan. So aber bleibt der Traum von der rundum gelungenen Umsetzung einer, für den man auf die sehr viel überzeugendere Hörspiel-Adaption bei Audible zurückgreifen muss.
Alle zehn Episoden von „The Sandman“ ab 05.08. bei Netflix.