Kritik: Die Ärzte und „Dunkel“ – „Fuck you, digitales Zeitalter!“
Gelungenes Spätwerk mit Spaß an Krawall und Tiefe
Wie man das wohl nennt, was Die Ärzte fast vierzig Jahre nach ihrer Gründung befallen hat? Verschärftes Studiofieber? Bandlust? Waren sie nach „auch“ (2012) für eine halbe Ewigkeit in Soloprojekte zerfallen, forcieren sie nun ihre Dreisamkeit. Auf „Hell“ folgt „Dunkel“, als wäre es ein Opernzyklus. Doch ein schattiges Gegenstück in Moll ist der neue Riesenbrummer nicht, eher eine Megazugabe mit 19 Songs, die im Vinylformat als Doppel-LP daherkommt.
Gleichwohl gibt es Noir-Anklänge in Text und Musik. Im Titelsong verspricht ein „schwarzes Babytuch“ nichts Gutes, auch „Danach“ als Midtempo-Chanson über Liebe und Vergänglichkeit driftet in Richtung Unterwelt. Ebenso präsent sind die pfeilschnellen Klopper, wie „Karnickelfickmusik“, was man als Bekenntnis von gestandenen Herren um die Sechzig zu den Punkrock-Wurzeln verstehen darf. Auch die Single „Noise“ macht Krawall im Stil der späten Siebziger; die nordirische Haudraufband Stiff Little Fingers lässt grüßen.
Im Ärzte-typischen Wechselspiel der Songschreiber schaukelt man sich hoch bis zum ungewöhnlichsten Titel dieses opulenten Spätwerks. „Kerngeschäft“ ist ein in der Mitte des Albums platziertes Manifest mit Experimentalcharakter. Rapperin Ebow übernimmt hier einen längeren Reimpart, die Rock’n’Roll-Strukturen werden zerhämmert. Die zentrale Botschaft lautet: „Musik ist älter als Kapitalismus.“ Aus Wehmut wird „Fuck you, digitales Zeitalter!“.
Gleich danach eine komplett andere Atmosphäre, wenn Bela B in „Einschlag“ klingt wie ein cooler Udo Jürgens nachts um halb drei. So könnte man noch eine ganze Weile Pflöcke einschlagen: der furiose Gitarrentrack aus der Feder von Bassist Rod, die Ode an den verstorbenen Grantelautor Wiglaf Droste („Wir vermissen dich …“) oder das null ironische Bekenntnis zu Engagement und Demokratie mit pädagogischen Textzeilen wie „Freiheit ist keine App aus dem World Wide Web“. Ein opulentes Werk also, von dem man sich gut vorstellen kann, dass es auch ein Abschied ist. (Hot Action)