Joni Mitchell – Both Sides Now :: Die Unnahbare einfühlsam mit Evergreens zu orchestralem Feinklang
Die Mitchell, harsche Mistress und unsentimentale Poetin, hat sich einen lang gehegten Wunsch erfüllt Interpretin nur wollte sie einmal sein, Standards mit dem eigenen Leben füllen, mit großem Orchester und ganz ohne kommerzielle Zielvorgaben. Wie bitte, fragt sie kokett, die Vierziger sind momentan en vogue? Das habe sie nicht gewusst. Wir aber schon. Bryan Ferrys gar nicht ungalante, obschon schrecklich geschmäcklerische Stilisierung ist noch in frischer Erinnerung. Von George Michaels Grobian-Zugriff auf ähnlich hehres Kulturgut ganz abgesehen. Und jetzt der ganze Jazz-Nepp und Swing-Nippes noch mal, von Joni, die es doch eigentlich besser wissen müsste?
In Wahrheit sind es wir, die es hätten besser wissen müssen. Oh, wir Kleingläubigen! Wir vegetativen Skeptiker! Wir der ewigen Differenziererei Überdrüssigen. „Both Sides Now“, das wird schnell deutlich, ist weder Nepp noch Nippes, ist nicht der schnöde Egotrip einer verwöhnten Person. Hier werden nicht Steckenpferde geritten oder Regenbogen gemalt „Both Sides Now“ ist eine kleine Offenbarung. Joni Mitchell singt so weich und wissend, so frei von Manierismen und so voller Verständnis für die einfachen, eindringlichen Botschaften dieser Jahrzehnte alten Songs, dass sie ihnen nicht nur Gerechtigkeit widerfahren lässt (was allein schon höchstes Lob verdiente), sondern ihnen gar Geheimnisse entlockt, die früheren Interpreten entgingen. Und darunter befanden sich immerhin Billie Holiday, Ella Fitzgerald und Frank Sinatra.
Was needless to say – nicht heißen soll, Joni Mitchell sei eine bessere Sängerin ab Billie Holiday. Bewahre. Aber sie kommt ihr im Ausdruck zuweilen sehr nahe, in den dunkel tremolierenden Passagen, in den tiefblauen Schattierungen. Beherrscht singt sie dann, doch ist ihre Verruchtheit nicht aufgesetzt Im lakonischen „Comes Love“ etwa, wenn allein die Stimme einen Unterschied macht zwischen gut gelauntem Sich-fügen und schmerzerfulltem, kargem Defätismus: „Comes a mouse/ You can chase it with a broom/ Comes love/ Nothing can be done.“ Natürlich optiert Joni für das Letztere, während OI‘ Blue Eyes die romantischen Bedürfnisse der Fans bediente.
Zwei eigene Songs hat Mitchell zwischen die Evergreens platziert, den Titelsong und „A Gase Of You“, wo sie auf eine Weise „Oh, Canada!“ aus dem Gaumen quetscht, dass man sehr ins Wundern verfallt Die von Vince Mendosa atmosphärisch wie musikalisch ingeniös gestalteten Orchester-Arrangements sind reiner Genuss, egal, ob er linde Harfen-Arpeggios setzt, den 70-köpfigen Klangkörper zum Crescendo bündelt oder Big-Band-Flair verbreitet. Dazu Joni Mitchells fabelhafte Flexionen und ein Dutzend unsterblicher Songs. Exquisit.