John Cale
„Mercy“ – Später als gedacht
Double Sky/Domino (VÖ: 20.1.)
Der große Solitär reist mit seinen neuen Songs und Gästen kunstvoll durch die Zeit.
Nach der Neuinterpretation in eigener Sache, die uns 2016 mit „M:Fans“ ein erstaunliches Electro-Remake seines Quiet-Storm-Klassikers „Music For A New Society“ bescherte, biegt John Cale kurz vor Vollendung seines 81. Lebensjahrs doch noch mal mit zwölf neuen Stücken um die Ecke. Dabei wirkt „Mercy“ streckenweise so, als hätte der Waliser das letzte Album von Paul McCartney gehört, samt folgender Neulesung durch Nachgeborene, und sich dann gesagt: Ich versuche mal beides in einem! Bitte ich doch Weyes Blood, Sylvan Esso, Laurel Halo, Animal Collective und die Fat White Family gleich noch mit dazu. Wer weiß schon, wie viel Zeit noch bleibt.
Wer weiß schon, wie viel Zeit noch bleibt
Zeit ist ein großes Thema in diesen 70 Minuten Musik, mit der Cale sich auch in der Kunst übt, als Künstler sichtbar zu bleiben, ohne die Gäste zur Staffage zu degradieren (was meist gelingt). Mal scheint sie stillzustehen, nachdem Europas Größe in Schlamm versunken ist. „Did you realize how late it was?“, fragt Cale. Und er antwortet trocken: „Later than you think.“
In „Everlasting Days“ soll die lastende Vergangenheit nicht den Blick auf die Zukunft verstellen. Doch wie viel Zeit bleibt noch, um aus Objekten unserer Ausbeutung Subjekte mit eigenen Rechtsansprüchen zu machen („The Legal Status Of Ice“)? Mit dem vernebelten Nico-Tribute „Moonstruck“ reist Cale direkt in seine eigene Vergangenheit. Denn der Zahn der Zeit, er nagt ja auch ganz persönlich, am bewegendsten im Liebeslied „Noise Of You“. Ach, diese Sehnsucht, von Geräuschen eines geliebten Menschen umgeben zu sein – und dann festzustellen, dass erst mal das Gehör wiederkehren müsste, um das zu ermöglichen! Here comes Hinfälligkeit.
Cales Ton ist weder apokalyptisch noch beschwichtigend
Cales Ton ist weder apokalyptisch noch beschwichtigend. Eher nüchtern oder, etwa in „Not The End Of The World“ oder „I Know You’re Happy“, auch mal ermutigend. Fast gitarrenlos baut der große Solitär seine neue Musik um Synths/Keys/Piano, Stimmen, Bass und Beats, dazu gern divers formatierte Streicher. Vom skelettierten Impressionismus eines „Marilyn Monroe’s Legs (Beauty Elsewhere)“ bis zum fast beschwingten „Night Crawling“ ist viel drin. Schließlich schaut der ultimative Zeitabschneider im dramatischen Suizid-/ Lovesong „Out Your Window“ noch explizit vorbei: Möge er oder sie doch bitte nicht springen! Gnade!