In The Heights
Man muss schon träumen wollen
Die Musicalverfilmung „In The Heights“ erzählt migrantische Schicksale, wie es authentischer kaum geht. Dabei bleibt der Film seiner Vorlage treu – „In The Heights“ ist Musical durch und durch.
Kaum ein Genre musste sich im Laufe der Geschichte so viel Spott gefallen lassen wie der Musicalfilm. Was am Broadway noch mit einer gewissen Altehrwürdigkeit besetzt ist, empfanden viele Menschen auf der Leinwand schon immer eher als albern. Natürlich trugen Teenie-Schnulzen wie „High School Musical“, obwohl kommerziell erfolgreich, kräftig zu diesem Image bei. Neuere Ausfälle, wie die groteske „Cats“-Adaption von 2019 (Ian McKellen und Judi Dench als alptraumhafte CGI-Katzen) ließen die Rehabilitation des Musicalfilms als nicht gerade einfacher erscheinen.
Natürlich gibt es auch anspruchsvollere Filme, Damien Chazelles „La La Land“ etwa, der selbst hartgesottene Musicalhasser überzeugte. „In The Heights“, der am 22. Juli 2021 in die Kinos kommen wird, hat durchaus das Potential, nun ebenso zu begeistern. Dabei macht Regisseur John M. Chu („Crazy Rich Asians“) eines goldrichtig: Statt sich davor zu verstecken, zelebriert „In The Heights“ die bunte gefühlige Welt des Musicaldaseins.
„Everybody’s got a job, everybody’s got a dream“
Sie arbeiten in Bodegas (das New Yorker Äquivalent zum Neuköllner Späti), Nagelstudios und Taxizentralen: Im Mittelpunkt des Films stehen die Bewohner*innen des New Yorker Stadtteils Washington Heights. Ladenbesitzer Usnavi (Anthony Ramos) schlägt sich mit Cousin Sonny (Gregory Diaz) gerade so durch und träumt davon, irgendwann in die Dominikanische Republik zurückzukehren. Ob Nageldesignerin Vanessa, Stanford-Studentin Nina („Die, die es hier raus geschafft hat“) oder Abuela (Großmütterchen) Claudia – in den Heights hat jeder einen „Sueñito“, einen kleinen Traum. Als Usnavi schließlich ein 96-Tausend-Dollar-Lotterielos verkauft, scheinen all diese Träume für einen kurzen Moment zum Greifen nah.
„In The Heights“ ist eine fast ausschließlich mit Lateinamerikaner*innen besetzte Verfilmung des gleichnamigen Musicals von Lin-Manuel Miranda. Hauptdarsteller Anthony Ramos hatte seinen Durchbruch mit Mirandas Meisterwerk „Hamilton“, war aber auch schon in einer Bühnenfassung von „In The Heights“ zu sehen, damals in der Rolle des Sonny. Gewissermaßen gibt Miranda, der im Original-Musical selbst die Hauptrolle des Usnavi spielte, hier das Zepter an die nächste Generation weiter – gönnt sich aber eine kleine Nebenrolle als Piragua-Verkäufer.
Von der Bühne auf die Leinwand – nicht ganz ohne Fehler
Es geht hier um einen Musicalfilm und dank Mirandas preisgekrönter Vorlage überzeugt auch die Leinwandadaption musikalisch. Wenn Usnavi, Nina und Vanessa ihre Träume und Ängste besingen, bedienen sie sich dabei an einer zeitgemäßen Mischung aus Latin, Hip-Hop und klassischer Musicalmusik. Wie die Heights aussehen, so klingen sie auch.
Visuell wächst der Film glücklicherweise über seine Vorlage hinaus, nutzt die Möglichkeiten des Mediums und erschafft eine knallbunte Parallelwelt, in der die Sättigung immer bis zum Anschlag aufgedreht und das Überwinden physikalischer Gesetze nur einen romantischen Tanz entfernt ist. Gerade im Post-Corona-Sommer ist „In The Heights“ die lang ersehnte, auf Film gebannte Dopaminspritze. Ein, zwei digital aufgehübschte Lense-Flares weniger hätten dem Film allerdings trotzdem gut getan.
Was man Quiara Hudes („Water by the Spoonful“) Drehbuch stellenweise anmerkt, ist die Schwierigkeit, ein Musical mit zwei Akten so in einen Film mit drei Akten zu überführen, dass sinnvolle Spannungsbögen entstehen. Außerdem – und das müssen auch die fanatischsten Miranda-Jünger zugeben – so richtig viel Handlung hatte auch schon die Broadway-Vorlage nicht. Konsequenterweise fügt Hudes der Handlung einiges hinzu und macht beispielsweise Usnavis und Vanessas Beziehung wesentlich interessanter.
Eine Geschichte über und für Migrant*innen
Kommen wir aber zur eigentlichen Relevanz des Films. Noch heute tauchen Latinos in Hollywoodstreifen allenfalls als grimmig dreinschauende Kartell-Bodyguards auf. Echte Repräsentation? Eher Fehlanzeige. „In The Heights“ tut es seiner Broadway-Vorlage gleich und feiert ein kulturelles Erbe, dass in der Filmwelt bisher wenig stattgefunden hat. Dass sich die Figuren, wenn auch teils zu kultigen Archetypen überspitzt, so echt anfühlen, hängt mit der Entstehung des Musicals zusammen: Schöpfer Lin-Manuel Miranda selbst wuchs als puerto-ricanisches Einwandererkind in den Washington Heights auf. Die Kinoadaption schafft es nun, 12 Jahre später, den Spirit der Vorlage einzufangen und ist ebenso Liebeserklärung an einen Kiez, wie Porträt der New Yorker Latinx-Community.
Dabei ist es gerade die Detailverliebtheit bei der Darstellung lateinamerikanischer Kultur, die aus „In The Heights“ einen Film macht, der nicht nur über, sondern für Migrant*innen gemacht zu sein scheint. Diese Authentizität transportiert sich in kurzen, vermeintlich unerheblichen Momenten. So etwa wenn Usnavi in der Eröffnungssequenz Unmengen an Vaporub-Erkältungssalbe – Allheilmittel bei Latinx-Müttern – für wenige Frames in die Kamera hält. Allerdings wäre es gelogen, zu sagen, dass die Produktplatzierungen eines gewissen US-Kaltegetränkeherstellers die Freude am minutiösen Setdesign nicht ein wenig schmälern würden. Na dann, Prost.
Illustre Traumwelt, harte Realität
Gerade weil „In The Heights“ dieses bonbonfarbenes Feuerwerk der Lebensfreude ist, bieten die wenigen schmerzhaften Momente eine willkommene Abwechslung. Auch hindern diese den Film daran, zur völligen Verklärung des Lebens einer nach wie vor strukturell benachteiligten Bevölkerungsgruppe beizutragen. Ja, diese Community tanzt sich inbrünstig durch den Sommer ihres Lebens, doch was bleibt, wenn der letzte Akkord verklungen ist, sind die persönlichen Tragödien, die hier porträtiert werden. Usnavi bleibt ein mittelloser Späti-Verkäufer und für Nina (Leslie Grace) wird es sicher nicht bei dem einen Mal bleiben, dass ihr Stanford-Zimmer aus rassistischen Beweggründen durchsucht wurde.
Diese Realität erkennt der Film durchaus an und lässt die hoffnungsvollen Träume und Gesten seiner Protagonist*innen weniger glanzvoll erscheinen, als es auf den ersten Blick scheint. Abuela Claudia (Olga Merediz) bringt es auf den Punkt: „Wir müssen unsere Würde im Kleinen bewahren. Kleine Details, die der Welt zeigen, dass wir nicht unsichtbar sind.“ Da ist der Einwanderer erster Generation, dessen naiver amerikanischer Traum nach Jahrzehnten harter Arbeit zu bröckeln droht. Oder aber dessen Tochter, die zwischen den Welten schwebt und sich fragt, wer sie selbst wäre, wenn ihre Eltern niemals per One-Way-Ticket in ein neues Leben aufgebrochen wären.
Ein kleiner Höhepunkt des Films beinhaltet zudem einen der wohl außergewöhnlichsten Cameos der letzten Jahre. Latin-Musiker Marc Anthony gibt in dieser überraschend düsteren Szene Usnavis Onkel und damit Sonnys Vater. Unrasiert, mit tiefen Augenringen sitzt Anthony beim morgendlichen Bier („Ist das dein erstes?“) vor Usnavi und gibt diesem zu verstehen, dass sein Sohn als illegaler Einwanderer nie die Chance auf ein normales Leben haben wird.
Schließlich kulminiert der kollektive Schmerz der Washington Heights in einer Szene, die Fans schon aus dem Broadway-Original als Showstopper kennen. Nach einer pheromongeladenen Party im Salsa-Club kommt es im ganzen Viertel zum Stromausfall, was die Bewohner*innen der Heights zu einer (melo)dramatisch inszenierten Erkenntnis in Wortspielform bringt: „We are powerless.“
Man muss schon träumen wollen
Ist „In The Heights“ am Ende also nur etwas für Migrant*innen, Musicalfans oder gar migrantische Musicalfans? Jein. Obwohl der Film eine klare Botschaft vermittelt, verliert er dabei nie seinen massentauglichen Feel-Good-Charakter. Allerdings bekennt sich Regisseur Chu ohne wenn und aber zum Musical-Genre. Wer also heute noch traumatisiert von langen High-School-Musical-Mitsing-Abenden ist, sollte sich darüber zumindest im Klaren sein. „In The Heights“ ist letztlich ein energiegeladenes Musical über Hoffnungen und Träume, dass einiges an gesellschaftspolitischer Relevanz mitbringt. Dennoch wird sich fast jeder darin wiederfinden können – aber man muss schon träumen wollen.