Herausgegeben von Carmen Pinilla & Frank Wegner :: Verdammter Süden. Das andere Amerika
Crónicas, Reportagen, sind in Lateinamerika anders als hierzulande eine literarisch ehrenwerte, noch dazu auflagenstarke Gattung. Diese schöne Sammlung soll zweierlei Zweck erfüllen: 17 namhafte cronistas teilweise erstmals einem deutschen Publikum vorzustellen und, terminlich passend zur Fußball-WM in Brasilien, zumindest ausschnitthaft einen literarischen Atlas vom „anderen Amerika“ zu zeichnen.
Auf den ersten Blick bestätigen sich alle Klischees, die man als Novize von diesem vermeintlichen Anarcho-Kontinent haben konnte. Es gibt viel Armut, Korruption, Bandenterror, Menschenhandel, die Macht der Drogenkartelle infiltriert sämtliche Lebensbereiche, und immer wieder verschieben sich die Grenzen der Moral noch ein Stückchen in Richtung totaler Verwahrlosung. Aber diese Texte führen die sattsam bekannten Schlagzeilen auch wieder zurück in den tatsächlichen Lebensalltag der Menschen.
Am eindrucksvollsten sind gar nicht so sehr die erwartbar spektakulären Crime-Storys: Etwa Josefina Licitras ambivalentes Porträt einer minderjährigen Geiselgangsterin, die man als skrupellose Kriminelle und zugleich als Opfer eines grausamen Polizeiapparats beschreiben kann. Oder Fabrizio Mejía Madrids Erkundungen aus der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez, einem Pandämonium der narcocultura, zu deren ganz normalen Initiationsriten es zum Beispiel gehört, eine Frau umzubringen. Oder Guido Bilbaos Reportage vom „vergifteten Paradies“ San José, einer Insel im Golf von Panama, die von den USA um 1945 herum als Testgelände für C-Waffen missbraucht wurde. Bis heute oxidieren dort dutzendweise Blindgänger vor sich hin, weil jede neue US-Regierung sich unzuständig erklärt. Alles eine Frage der Kosten.
Aufschlussreicher und empathischer, einfach näher bei den Menschen ist Andrés Felipe Solanos lange Reportage aus dem kolumbianischen Medellín, dem ehemaligen Stammsitz des berühmt-berüchtigten Drogenbarons Pablo Escobar. Solano schuftet dort ein halbes Jahr lang in einer Textilfabrik für einen Mindestlohn, taucht ins Arbeitermilieu ein, das hier am Rande des Existenzminimums lebt, beschreibt den durchaus nicht hoffnungslosen kreativen Pragmatismus seiner Kollegen, die Herzlichkeit seiner Gastfamilie, die ihn wie einen Sohn in ihrer Mitte aufnimmt, und zeichnet ganz nebenbei auch noch ein plastisches Bild vom zurückliegenden Horror des Drogenkriegs. Wer braucht da noch Romane? (Suhrkamp, 20 Euro)