Genesis

„1970 – 1975“

Es gilt als Konsens, dass „Trespass“ (1970) nach dem hier gar nicht enthaltenen „FromGenesis To Revelation“ – die schwächste der frühen Genesis-Alben ist. Wer aber barockes Orgelspiel, Flötentöne und Pathos schätzt, der wird hier eine einzigartige ritterliche Romantik erkennen, kompositorisch weniger verspielt (womöglich: verquast) als auf den späteren Platten. „White Mountain“, „Visions Of Angels“ und „The Knife“ sind schon liebliche, majestätische Großwerke aus Peter Gabriels Schauermärchen-Kosmos.

„Nursery Cryme“ (1971) trägt die Anspielung auf britische Dichtung für Kinder, ins Schreckliche vertiert, schon imTitel. David Baddiel hat für das Booklet eine wunderbare Hommage an die frühen Genesis verfasst, die er mit kleiner Verspätung im Zenit des Punk entdeckte. Er lobt neben legendären Arbeiten wie „The Musical Box“ und „The Fountain Of Salmacis“ besonders eher schlicht-folkoristische Stücke wie „For Absent Friends“. Der progressive Jugendliche begeisterte sich besonders für „Supper’s Ready“ von „Foxtrot“ (1972), das gleich eine LP-Seite einnahm.

Anders empfanden in der Regel weibliche Gäste, die der Genesis-Jüngling beeindrucken wollte. Überhaupt war Genesis-Hören eine einsame Angelegenheit, es sei denn, man fand Gleichgesinnte, die das Unzeitgemäße schätzten. Mit „Selling England By The Pound“ (1973) schloss die Band die britische Altertümelei ab – „I Know What I Like (In Your Wardrobe)“, „Firth Of Fifth“ und „Battle Of Epping Forest“ wurden noch viele Jahre später von der Trio-Besetzung gespielt. Statt hier nach Ironie zu suchen, sollte man über den Akt des Widerstands nachdenken, der zu jener Zeit darin lag, komplizierte Epen auf dem Mellotron zu spielen.

Peter Gabriel erklärt die Entfremdung von den Kollegen zum guten Teil damit, dass sein erstes Kind geboren wurde, während „The Lamb Lies Down On Broadway“ (1974) entstand, für das er die begleitende Geschichte und sämtliche Songtexte schrieb. Tony Banks macht keinen Hehl daraus, wie wenig er von dem wirren Plot um den Puerto-Ricaner Rael hält. Gabriel, vom Surrealismus und dem Film „El Topo“ von Alejandro Jodorowsky inspiriert, spintisierte Gullivers Reisen zusammen, mittlerweile befeuert von Eindrücken seiner eigenen Besuche in den USA.

Es gibt so viele Momente in dieser komischen Oper, die man herbeisehnt wie Szenen eines Films, Motive von überwäligender Schönheit, die gar nichts zu tun haben mit der Fama, die man mit der eigenen Einbildungskraft weitererzählt, die sich verselbständigen wie ein Traum. Überraschende Auftritte wie der von „Evel Knievel“, Marshall McLuhan und Howard Hughes irritieren ebenso wie das „Raindrops keep falling on my head“ von „In The Cage“ und das rauschende Ende von “ it“, wenn Gabriel hymnisch wiederholt: „It’s only rock and roll, but I like it.“

Freilich lautet der geschriebene Text „Cos it’s only knock and knowall, but I like it“. Daraus und aus Gabriels Epiphanie, als er Bruce Springsteen auf der Bühne sah, den Ruf zum Einfachen zu konstruieren, ist denn doch etwas kühn – auch angesichts seines ersten Solo-Albums von 1977. Vielmehr zeigt der überdrehte Auftritt in einer französischen Musiksendung von 1974 („Melody“), in der Gabriel mit zum Teil geschorenem Haar herumalbert, dass er noch tief im Bizarren steckte.

Die CD mit Raritäten enthält einige frühe Stücke, darunter „Happy The Man“, und einige Skizzen von 1969 für einen BBC-Film über Michael Jackson (den Maler!), die später als Teile anderer Songs verwendet wurden. Ihre Vision war also von Anfang an intakt, man täusche sich nicht. Aber kann man „The Lamb Lies Down On Broadway“ erklären, gar verstehen? Das wäre ja noch schöner! There’s always magic in the air. (EMI)

Arne Willander