Die Tödliche Doris
Die unsichtbare LP
Major Label (Broken Silence)
Eine der facettenreichsten und innovativsten Arbeiten des Berliner Post-Punk-Kunstkollektivs "die Tödliche Doris" wird erneut ans Licht gebracht.
Jetzt wächst also zusammen, was zusammen gehört. Auf dem Leipziger „Major Label“ ist diesen Sommer „Die „unsichtbare LP“ von Die Tödliche Doris als limitierte Gesamtausgabe in edler Vinyl-Box erschienen. Damit wird ein material-, raum- und zeitübergreifendes Albumprojekt wieder im Original-Format zugänglich, das zu den faszinierendsten, facettenreichsten und innovativsten Arbeiten des Berliner Post-Punk-Kunstkollektivs um Wolfgang Müller zählt.
Lange bevor die Flaming Lips mit „Zaireeka“ im Jahr 1997 vier CDs veröffentlichten, die im simultanen Abspiel auf vier separaten Anlagen ein opulentes psychedelisches Wunderwerk aufführten, hatte Die Tödliche Doris Mitte der 80er Jahre ein noch deutlich ambitionierteres, wenn auch nicht weniger spielerisches Konzept ausgeheckt. Die Idee war, zwei LPs zu produzieren, deren künstlerische Ausrichtung sich diametral unterschied und die doch ein klanglich und ästhetisch stimmiges Ganzes bilden sollten, wenn man sie gleichzeitig auflegt. Mit der einen Schallplatte, „Unser Debut“, simulierte die Künstlergruppe ihren vermeintlichen Drang, den Sprung von der Avantgarde in den kommerziellen Mainstream zu schaffen, „eine Musik der Scheußlichkeiten, der Halbwahrheiten und Anbiederei“, so Müller in seinem Buch „Subkultur Westberlin 1979-1989“. Schon der Titel war eine Lüge, denn Doris war schon lange keine Debütantin mehr.
Die andere LP, „sechs“ sollte wiederum in all ihrer Sperrigkeit und Unzugänglichkeit eine maximale Unabhängigkeit von Publikum und Presse behaupten. Von diesem trügerischen Plan durfte außerhalb der Band freilich niemand wissen. Ursprünglich war beabsichtigt, „Unser Debut“ in der DDR zu veröffentlichen und „sechs“ kurz darauf in Westdeutschland, doch das Ostlabel Amiga lehnte dankend ab. Jammerschade. Welch subversiver Coup der Grenzüberschreitung das gewesen wäre! So wurden beide Alben schließlich im Abstand von zwei Jahren beim westdeutschen Indie-Label ATA TAK separat und ohne Hinweis auf den gemeinsam Ursprung veröffentlicht. Die bundesdeutschen Medien gingen Doris natürlich in die Falle, verrissen „Unser Debut“ gnadenlos als „anbiedernd“, während Diedrich Diederichsen „sechs“ später überschwänglich in der SPEX dafür lobte, sich dem Ideal „keiner Musik“ anzunähern. In einem mehrsprachigen Plakat proklamierte Die Tödliche Doris schließlich „Schmeißt die Krücken weg!“ und legte die Idee der „unsichtbaren LP“ offen. So kam im Zusammenspiel der beiden LPs nicht nur ein immaterielles Album voll wunderlicher Worte, Klänge und Geräusche zum Vorschein, sondern auch das dahinter stehende künstlerische Konzept: die Auseinandersetzung mit dem eigenen Image, den Konventionen und Automatismen der Medienrezeption, den Limitierungen des Tonträgers und seiner Distributionsbedingungen – ganz abgesehen von der visionären Ost-West-Dimension der ursprünglichen Idee.
Ein abstraktes Hörspiel und dadaistisches Kopfkino
Das limitierte, nummerierte und von Wolfgang Müller signierte Box-Set „Die unsichtbare LP“ ermöglicht nun, sich noch einmal ausgiebig mit diesem schillernden Projekt zu beschäftigen – idealerweise mit Hilfe zweier simultan zu betreibender Plattenspieler. Beide LPs sind auf transparentem Vinyl gepresst und stecken in stabilen hellgrauen Papphüllen; neben einem Begleittext von Müller liegt auch ein A1-Nachdruck des „Schmeißt die Krücken weg!“-Posters bei. Die Vermutung, dass „sechs“ für sich genommen ein recht sperriges Hörvergnügen bereitet, bestätigt sich, dabei hat die Platte als abstraktes Hörspiel, dadaistisches Kopfkino und schalkhafte Poltergeisterbeschwörung ihren ganz eigenen Reiz. Wer indes bei dem als Gegenpol angelegten „Unser Debut“ etwas in der Art einer ranschmeißerischen NDW-Parodie erwartet, dürfte enttäuscht sein, denn auch diese LP ist – zumindest aus heutiger Perspektive und mit biederen Ohren gehört – ein durchaus ambitioniertes, pop- und perfektionsfernes Werk genialer Dilettanten. Solch schräges Zeug galt Mitte der 80er Jahre schon als Ausverkauf? So hat der damalige künstlerische Impuls der Tödlichen Doris, mit dieser LP den in der Westberliner Subkultur zunehmend beobachteten Opportunismus zu karikieren, mit Blick auf die heute geläufigen Mechanismen des Pop- und Kunstmarktes etwas nachgerade rührendes.
Um so faszinierender, wie beide LPs auf textlicher, klanglicher, visueller und konzeptioneller Ebene im Gleichklang miteinander kommunizieren und sich gegenseitig kommentieren. Schade insofern nur, dass die Wiederveröffentlichung darauf verzichtet hat, die Original-Cover-Artworks zu reproduzieren. Denn hier finden sich eine Vielzahl zusätzlicher Korrespondenzen, etwa wenn auf der Vorderseite von „Unser Debüt“ die Frage „Wie geht es dir jetzt?“ auf dem Cover von „sechs“ beantwortet wird mit „Jetzt ist alles gut“.