Die Nerven
„Die Nerven“
Glitterhouse/Indigo (VÖ: 7.10.)
Post-Punk-Vertonungen des Unbehagens in der Kultur
Während um ihn herum Kevin Kuhns Schlagzeug, Julian Knoths Bass und seine Gitarre immer neue Soundwände errichten, bekennt sich Max Rieger zur Resignation, zur selbst verschuldeten Ohnmacht, zur inneren Erstarrung, zum Hang zur Negation, zur Passivität: „Ich könnte überallhin gehen, aber kann mich nicht bewegen!“ Es liegt nahe, das sich langsam aufbäumende Post-Punk-Ungetüm namens „Keine Bewegung“ für einen Corona- Kommentar zu halten. Doch das Naheliegende und das Eineindeutige waren noch nie die Sache der Nerven. Dieser Song ist ein verstörendes, hochkonzentriertes Amalgam aus Introspektion und Gesellschaftskritik – und viel zu gut, um als Zeitgeisthymne für die pandemische Welt herzuhalten.
Die Nerven finden zuverlässig die Sollbruchstellen der Gesellschaft und des Ichs
Schon bevor der ganze Corona- Spuk anfing, hatte sich das Stuttgarter Trio als Blitzableiter der Erregungskultur und der Empörungsgesellschaft empfohlen. Auf ihrem fünften Album, „Die Nerven“, vertonen Die Nerven mit einer Mischung aus Post-Punk, Noise-Rock und Pop noch konsequenter, präziser, souveräner als bisher das Unbehagen in der Kultur, verzieren „180°“ mit Streichern und Klavierakkorden, aber auch Celan- und Goethe Anspielungen, erzählen vom Zeitalter des Narzissmus („Ein Influencer weint sich in den Schlaf“), von der selbstgefälligen Sattheit einer Generation („Ganz egal“), vom Turbokapitalismus („Alles reguliert sich selbst“), sozialer Kälte („Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“), von Reizüberflutung („15 Sekunden“), finden zuverlässig die Sollbruchstellen der Gesellschaft und des Ichs.
Zum Beispiel wenn es in „Europa“ um das böse Erwachen geht, das einen erwartet, wenn man zu lange im Elfenbeinturm vor sich hin gedöst hat: „Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie“, heißt es im Refrain dieses Protestsongs 2.0, der mit einer Akustikgitarre beginnt und in dem sich später wieder einmal eine von Max Rieger grandios inszenierte gewaltige Wall of Sound auftürmt. Der Text ist lange vor Russlands Angriff auf die Ukraine entstanden. Auch wegen solch hellsichtiger Songs bleiben Die Nerven eine der wichtigsten und besten Bands Deutschlands.