Depeche Mode: 27 Jahre „Ultra“
Einander entfremdet, aber voneinander abhängig: Das Comeback der Briten läutet die zweite Phase der Band ein
Nach der „Exotic Tour“ von 1994 verließ Klangdesigner Alan Wilder, der trotz seiner prägenden Arrangements immer nur der vierte Mann von Depeche Mode sein durfte, die Band. Andy Fletcher bekam während der Konzertreise einen Nervenzusammenbruch, ließ sich auf der Bühne vertreten. Martin Gore verfiel der Flasche und Dave Gahan dem Heroin, außerdem erlitt der 32-Jährige einen leichten Herzinfarkt. Ein Jahr später war er nach einer Überdosis sogar für zwei Minuten klinisch tot.
Gahan erwies sich als unberechenbar, er musste vor Gericht, Paparazzi filmten ihn, wie er vor Amtsgebäuden faselte und sich in Autos flüchtete. Depeche Mode standen vor der Trennung. Songwriter Gore erwägte, neues Material nicht mehr für die Band, sondern für sein Soloalbum zu verwenden. Doch Gahan wollte nicht loslassen. Über Wochen nahm er mühselig seinen Gesang auf. An vielen Tagen bekam er, der sich in die Reha begab, gar nichts hin.
Mit „Ultra“ erschien im Mai 1997 dann das neunte Studioalbum von Depeche Mode, und es würde für einige Jahre den Auftakt für zwei Regelmäßigkeiten bilden. Erstens, eine neue DM-Platte erscheint exakt alle vier Jahre, und zwar ein Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft. Die Musiker brauchten von nun an diesen Rhythmus. Aufnehmen, touren, runterkommen. Zweitens, aus Klangschöpfern und Vorreitern wurden Mitbewerber: Depeche Mode spielten in der elektronischen Musik weiter eine Rolle, schritten aber nicht mehr voran, sondern suchten sich Produzenten, die für aktuelle Strömungen stehen. Alan Wilder fehlte hier.
In Alben wie „Some Great Reward“ perfektionierte die Band 1984 noch, mit Hilfe von Gareth „Einstürzenden Neubauten“ Jones einen Industrial-Sound aus Electro und Alltagsgeräuschen. Das 1993 erschienene „Songs Of Faith and Devotion“ stellt bis heute eine voluminöse Paarung von Rock, Gospel und Pop dar, von der Produzent Flood wohl als einziger behauptet, sie hätte noch besser klingen können.
Mit Tim Simenon, in den 80er-Jahren Kurzzeit-Wunderkind von Bomb The Bass, suchte Martin Gore sich zumindest einen Produzenten aus, auf den keiner gekommen wäre. Simenon aber probierte sich an einem Sound, der zwischen Dirty Electro und Bristol changierte. „Home“, der vielleicht beliebteste Song von „Ultra“, erinnert mit seinen Streichern an den leicht künstlich wirkenden Orchesterklang von Massive Attack, Gores Stimme hüpft dazu wie die von Erasure-Sänger Andy Bell. Es war einfach alles viel zu dünn auf dieser Platte.
Mit „Useless“ und „It’s No Good“ gibt es zwei Singles (auch die einzigen zwei Uptempo-Stücke unter den zwölf), die durch eher monotone Refrains unterverkauft werden. Auch die Vorab-Auskopplung, „Barrel Of a Gun“, von der Band als „härtester Song, den wir je gemacht haben“ beworben, schleicht eher vor sich hin statt auf einen Höhepunkt zu.
Ultra: Das Album des Überlebenden
Keinen Zweifel ließ Gahan daran, dass er sich fortan als Überlebender sieht. Aber als Überlebender, der die ihm von den Medien zugeschriebene Opferrolle nicht annimmt. Kollege Gore schrieb ihm dazu den entsprechenden Text auf die Brust: „Whatever I’ve done/ I’ve been staring down the barrel of a gun / Is there something you need from me / Are you having your fun /I never agreed to be /Your holy one.“ Im Video malten die Musiker sich Augen auf ihre Augenlider: Menschen, die die Augen vor der Welt verschließen, ohne dass die Welt das bemerken soll.
Im Vereinten Königreich kamen Depeche Mode mit „Barrel of a Gun“ auf Platz vier der Charts – zusammen mit „People Are People“ bis dato ihr größter Hit. Das Interesse am „DeMo“-Comeback war also vorhanden. „Ultra“ selbst schaffte es dort in den Albencharts auf die Eins. Ihre letzte bis heute.
Es sind die kleineren Songs, die nichts von ihrer Lebendigkeit verloren haben, auf jenem Werk, in dem es vor allem ums Überleben geht. Gores „The Bottom Line“ etwa, auf dem Can-Drummer Jaki Liebezeit eher unbemerkt zu hören ist, die auffallende Unauffälligkeit aber sicher in dessen Sinne ausfiel. Dazu „Freestate“ und „Insight“, das von dem Geräusch eines klopfenden Herzens geprägt ist; Gahans Versicherung „The Fire Still Burns“ nimmt jedoch die späteren eigenen, eher einfachen Songtexte vorweg.
Viele Fans bezeichnen „Ultra“ als Werk, das die Trennlinie von Depeche Mode zieht. Als ihr letztes richtig gutes oder als ihr erstes eher schlechtes. Die Musiker selbst waren einfach nur froh, dass die Platte entstehen konnte. Gore widmet sich den Stücken heute noch gerne, übernimmt das von Gahan gesungene „Insight“, führt „The Bottom Line“ auf, „Sister Of Night“ oder die B-Seite „Surrender“. Alle diese Lieder wären ja auch fast als Solo-Material erschienen. Nur auf die Live-Premiere des schönen „The Love Thieves“ warten wir bis heute.
Wie Keyboarder Andy Fletcher sagte, hätte die Band mit „Ultra“ unmöglich auf Tournee gehen können. Der Aufwand machte ihnen Angst, die schlechten Erfahrungen mit der „Exotic“-Reise hielten sie davon ab. Es gab kurze „Warm-Up Parties“, das war’s. „Ultra“ ist damit die einzige Platte der Band, die keine Tour erhielt.
Aber schon ein Jahr später sorgten Depeche Mode für die entsprechende Rückversicherung, dass sie als Live-Band noch taugten. Ihre „The Singles Tour“ zur gleichnamigen Best-Of präsentierte die Hits von 1986 bis 1998. Kaum eine ihrer Konzertreisen wurde derart abgefeiert. Depeche Mode standen damit wieder bereit.
Band-Phase Nummer zwei war etabliert: den Ruf verwalten, im Vier-Jahres-Rhythmus die Maschine anwerfen.