David Bowie
Station To Station
Sechs Songs wie Monumente: Bowie stellte der Öffentlichkeit den Thin White Duke vor.
Weiß, überall weiß. Das Cover mit seinem weißen Rahmen, David Bowie durchlebte während der Aufnahmen von „Station To Station“ seine weiße Phase. Ernährung nur von weißen Sachen, Milch und Kokain (dazu Paprika, aber die dürfte nicht weiß gewesen sein).
Bowie war Ende 1975 derart abgemagert, hochgradig drogenabhängig, dass er sich, wie er später behauptete, nicht mehr an die Zeit im Studio erinnern kann, als er sein zehntes Album aufnahm. Ironischerweise ist das Leben des damals 28-Jährigen wohl zu keiner Zeit seiner Karriere so durchleuchtet worden wie in dieser Episode.
Er wohnte seit bald einem Jahr in Los Angeles. In seiner Villa gingen die Leute ein und aus. Dealer, die er noch nie zuvor gesehen hatte (oder doch gesehen und gleich wieder vergessen hatte). Er schloss sich ein und sah Menschen an seinem Fenster vorbeifallen. Er malte mit Kreide okkulte Zeichen auf den Boden (im 1977 erschienenen „Breaking Glass“ heißt es: „Don’t Look At The Carpet / I Drew Something Awful On It“). Er las Aleister Crowley und hatte deshalb Angst vor Jimmy Page. Ließ sich durch Hollywood kutschieren und stieg doch nie aus dem Wagen, kurz: „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“
Die Toten und die Lebenden
In Bowies Gedankenwelt kämpften hochtrabende Konzepte miteinander. Sein Interesse an Nietzsches „Übermensch“, zuletzt 1971 in „Hunky Dory“ Thema, kehrte wieder zurück. Doch der Junkie in ihm brachte alles durcheinander. In der Sendung „VH1 Storytellers“ erzählte Bowie 1999 in einer seiner lustigsten Ansagen von der damaligen Sprunghaftigkeit: „Ich wollte wissen: Interessieren sich die Toten für die Belange der Lebenden?“. Und kurz darauf: „Kann ich den Fernsehsender wechseln, ohne die Fernbedienung zu nutzen?“
Als Musiker zumindest befand Bowie sich 1976 in einer komfortablen Situation. Sein letztes Album „Young Americans“ beinhaltete mit „Fame“ seine erste Nummer-Eins-Single in Amerika. Und, was noch viel wichtiger war: Sein Imagewandel zum Soul-Sänger wurde akzeptiert. Bowies Wandlungsfähigkeit wurde zwar stets als Selbstverständlichkeit angesehen. Erfolg aber hatte er nicht immer. Über Tin Machine oder seinen Drum’n’Bass von „Earthling“ macht man sich heute noch lustig.
Bowie löste sich nach dem apokalyptischen „Diamond Dogs“ (1974) endgültig vom Glamrock und probierte sich mit „Young Americans“ also am Soul. Bowie kokettierte jedoch mit seiner britischen Abstammung, nannte das Werk „Plastic Soul“. Von Ziggy über George Orwell zur Black Music – Welcher heutige Künstler würde eine derartige Neuausrichtung innerhalb von zwei Jahren schaffen? 1975 schaffte Bowie es gar in die Sendung „Soul Train“.
Stolze 38 Minuten
Nur sechs Songs sollte nun sein neues Werk „Station To Station“ enthalten. Darunter mit dem 10 Minuten und 14 Sekunden dauernden Titelstück aber auch seine bis dato längste Aufnahme. Auf stolze 38 Minuten hat es die Platte dann gebracht. „Word On A Wing“, „Stay“ und „Wild Is The Wind“ ließen sich ihre sechs Minuten plus einige Sekunden ebenfalls nicht nehmen.
Funk, Krautrock und Soul
Die größten Entwürfe und Rollenspiele Bowies, sie alle sind auf „Station To Station“ zu finden. Krautrock, Funk, Faschismus, Religion, Soul. Es war Musik eines Europäers, der in den USA lebte, Soul lebte. Und wieder zurück nach Europa wollte, wo die Popmusik Orientierung suchte. Es war auch seine erste komplette eigenständig klingende Musik seit „Space Oddity“ von 1969. Ziggy Stardust und dem Glam kam Marc Bolan zuvor. Bowies Rock’n’Roll spielten auch schon Lou Reed mit seinen Velvet Underground.
Der R’n’B von „Young Americans“ war vor allem eine gelungene … Hommage. Den Sound von „Station To Station“ konnte Bowie nun komplett für sich reklamieren. In die von ROLLING STONE aufgestellte Liste der 69 besten Bowie-Songs haben es alle sechs Lieder in die Top 50 geschafft. Vier davon allein unter die ersten zehn Plätze.
„Station To Station“ sollte Bowies zweite und bis heute letzte Phase markieren, in denen seine Alben wie Bandprodukte klangen. Nach den Spiders from Mars (1972 bis 1973) stellte er sein bestes Studio- und Live-Kollektiv zusammen, mit dem er ganze vier Jahre, bis 1980 (als „Scary Monsters“ erschien) arbeitete.
Die Grundbesetzung bestand aus George Murray am Bass, Dennis Davis am Schlagzeug sowie Carlos Alomar an der Rhythmus-Gitarre. Später stießen Roy Bittan (Tasten) und Earl Slick (Gitarre) hinzu.
Die meisten von Bowies Alben ab „Let’s Dance“ von 1983 bis zu „Blackstar“ von 2016 wirkten so, als habe er sich vor dem Gang ins Studio ein Konzept überlegt und höchstens noch dem jeweiligen Produzenten Vetorecht gewährt. Hier wirkte das Ergebnis recht live und wie ein Dialog.
„Station To Station“ ist bei weitem nicht Bowies erfolgreichste Platte gewesen. Dennoch ist das Reissue von 2010 das bisher aufwendigste aus Bowies Backkatalog. Neben wild umherfliegendem Memorabilia enthält die große Box das Album in der CD-Abmischung von 1985 sowie einen neuen Transfer.
Der legt offen, wie viel besser das Werk noch hätte klingen können. Vielleicht der einzige Schwachpunkt der Original-Aufnahme. Die Songs wirken etwas mager, die Live-Versionen. Wie in der beigelegten Nassau-Aufnahme, haben da mehr rausgeholt.
Die Songs
An der Bedeutung des Titelstücks arbeiten sich bis heute die Rezensenten ab. Der einfahrende Zug am Anfang. Der langsam vor sich hin arbeitende erste Teil des Songs, mit seinen Feedback-Wänden, die den „Return Of The Thin White Duke“ ankündigen. In der zweiten Hälfte galoppiert die Band los, und Bowie besingt das große Thema der Platte – dass Sucht nur eine intensivere Form von Hingabe ist: „It’s Not The Side-Effects Of The Cocaine / I’m Thinking That It Must Be Love“. Carlos Alomar trieb dazu die Pferde voran, Earl Slick besorgte das Feedback.
Gegenüber dem monumentalen Opener tritt „Golden Years“, die Vorabsingle, eher klassisch auf, abgeklärter und nüchtern. Sie zeigt Bowie von jener nostalgischen Seite, die er schon sehr früh in seiner Karriere offenbart hatte, wie in „Changes“ von 1971, da war er gerade einmal 24 Jahre alt. Doch hier, und das unterscheidet diesen Soul etwa auch von „Young Americans“, ist das nicht unbedingt ein schöner Blick zurück.
Unsichere Bindungen offenbaren sich in Worten, die Liebe versichern, aber auch Forderungen stellen: “ Don’t cry my sweet, don’t break my heart / Doing all right, but you gotta get smart“. Obwohl „Golden Years“ in die britischen und amerikanischen Top Ten kam, sollte Bowie lange Schwierigkeiten mit dem Song haben und ihn bei seiner Konzertreise 1976 kaum spielen. Erst bei der „Serious Moonlight“-Tour sieben Jahre später, Bowies Karriere stand da unter einem ganz anderen Stern, sollte es gewürdigt werden, sogar im Zugabenteil.
Kurzauftritt bei „Live Aid“ 1985
„TVC 15″ als zweite Single-Auskopplung ist eine von Bowies kuriosesten Kompositionen. Aus dem perfekt getimten Stimmengewirr, in dem jeder Ton mit jedem konkurriert, schält sich dieser Song über die Allmacht des Fernsehgeräts heraus. Bowie ruft uns hier das Kommando „Transmission!“ entgegen.
TV als höchstes Maß aller Dinge, wenn der Rausch einen lägerig macht. Ausgerechnet dieses durchaus „medienkritische“, aber in den Charts bedeutungslos gewesene Lied spielte Bowie bei seinem Kurzauftritt bei „Live Aid“ 1985 – ein Wohltätigkeits-Event, das Millionen Zuschauer vor dem Fernseher verfolgten. „TVC 15“ enthielt da eine prominente Platzierung als Opener; vor den Hits „Rebel Rebel“, „Modern Love“ und „Heroes“, und Bowie strahlte dabei wie eine Glühbirne. Vielleicht muss man sich aber auch gar keinen Kopf machen – und Bowie entschied sich nur deshalb für „TVC 15“, weil es dem Festivalpublikum ein gutes Tempo bot.
Die zweite Plattenhälfte von „Station To Station“ war sogar noch besser als die erste. Drei Songs, 21 Minuten: „Word On A Wing“ zeigte einen Bowie, der noch nie stärker flehte als hier, fast weinte er. Auch in diesem Stück geht es darum, gläubig zu sein und den Kosmos dennoch rational begreifen zu wollen – „Just because I believe don’t mean I don’t think as well / Don’t have to question everything in heaven or hell“.
Es ist faszinierend anzuhören, wie Bowie hier mit sich ringt – faszinierend und nicht packend, weil einem der Zugang in die Gedankenwelt verschlossen bleibt. Hier geht es, wie der Sänger eben in seiner „VH1“-Ansage beschrieb, um die Ideen eines Mannes, der nicht ganz klar war, aber der die Wahrheit fast enthüllte.
Gitarre als Dauerpumpen
„Stay“ ist das Herzstück von „Station To Station“. Bei der „Isolar I“-Tour von 1976 blieb es wie auf dem Album auf Position fünf, bei der „Heathen“-Konzertreise von 2002 erhielt es endlich seinen gebührenden Platz. Dorthin, wo die Songs mit der größten Power hingehören: auf die Eins, als Opener.
Die Wah-Wah-Gitarre bot Funk mit Schmerzen, der Song war zugleich Verfolgungsjagd, Blaulicht, Kalifornien, Schluchten, Unfall, Discolicht und Überfall von hinten. Bowie und seine Musiker waren allein vom Intro dieses Monsters so angetan, dass sie es live gelegentlich bis zu einer Minute dehnten, mit Bass uns Gitarre als Dauerpumpen, während der Sänger sich durch die Rhythmen geradezu auftankt:
Die obige Aufnahme aus dem „Musikladen“ stammt von 1978, Bowie befand sich da schon auf „Isolar II“-Tournee, die „Low“ and „Heroes“ bewarb. Er sah wieder etwas fitter aus und lachte viel, auch wenn beide Alben noch düsterer und geheimnisvoller klangen als „Station To Station“.
Gut gescheitelt, Goldkettchen um den Hals und Klamotten wie aus der Sesamstraße – er trat auf wie eine Mischung aus Schüler und Galapagos-Vogel.
Herrscher und Hampelmann
Es stimmt einen umso trauriger, dass es von der 1976er-Tour, „Isolar I“, so gut wie kein Videomaterial gibt, und wenn dann nur solches mit schlechter Qualität. Bowie sah nie schöner aus als zu dieser Zeit. Seine Bühne füllte er mit weißem Licht, fast alle Fotos waren in Schwarzweiß, er rauchte unentwegt und trug einen von Slashs Mutter Ola Hudson entworfenen Anzug, der dem Stil der Weimarer Republik entlehnt war.
Mit Aufnahmen seiner kabarettistischen Posen, mal inszenierte er sich Herrscher, dann wie ein an Fäden bewegter Hampelmann, könnte und sollte man ganze Fotobände füllen. Ein von Bowie signiertes und von John Rowlands geschossenes Foto, das ihn in der später als „The Archer“ bekannt gewordenen Haltung zeigt, lässt sich hier erwerben.
Das „Station To Station“ abschließende „Wild Is The Wind“ ist Fremdkörper und Krönung zugleich. Man kann sich gut vorstellen, wie Bowie die Tracklist der Platte bereits abgeschlossen hatte, er dann aber nach einem Gespräch – der Geschichte nach mal soll es mal mit Nina Simone gewesen sein, mal mit Sinatra – entschied, diese Coverversion des Schlagers von Dimitri Tiomkin and Ned Washington mit auf die Platte zu nehmen.
Man kann das vielleicht eine amerikanische Entscheidung nennen. Bowie jedenfalls sollte nie würdevoller als hier singen, seine Fassung übertraf das Mathis-Original und übertrifft jede Version, die nach seiner gekommen ist. „Wild Is The Wind“ war, trotz des Themas – Verlust einer Liebe – aber auch ein positives Signal. Im Gegensatz zu den anderen fünf Liedern auf der Platte schien dieses hier doch recht geerdet, irdisch eben, es basierte auf einer schönen, unschuldigen Vorlage.
Zurück zu Glastonbury
Bowie war also noch nicht ganz abgehoben. Er strafte auch sich selbst Lügen, beschrieb er seine Kunstfigur des Thin White Duke doch als jemanden, der „romantische Lieder quälender Intensität vorträgt, aber nichts fühlt.“ Das sollte man ihm bei „Wild is The Wind“ nicht glauben.
Obwohl dieses Lied nie zu Bowies festem Live-Inventar gehören würde, war er sich dessen überwältigender Wirkung bewusst. Im Jahr 2000 trat er das erste Mal seit 1971 wieder auf dem Glastonbury-Festival auf, und voller Selbstbewusstsein wählte er als Eröffnungsstück seines Sets eben diesen Song – für ein gemischtes Publikum, das vielleicht einen Hit zu Beginn erwartet hätte.
Er selbst trug die Haare übrigens wieder wie zu „Hunky Dory“-Zeiten, auch die Wahl des Jacketts dürfte nicht zufällig erfolgt sein.
Mit Amerika war David Bowie nach „Station To Station“ erst mal durch, der Umzug nach Europa stand bevor. Mit „Low“ sollte er sich dann 1977 den endgültigen Triumph sichern – Musik mit Instrumenten, wie sie so zuvor noch nie geklungen haben.
Viele Fans und Kritiker würden – heute noch öfter als zur Veröffentlichung im Januar 1976 – „Station To Station“ zu einer der besten Platten Bowies wählen, mindestens in die Top Fünf des Künstlers, sehr häufig ist es in den Top Drei zu finden. Nicht wenige nennen es Bowies bestes Album.