Casper
Hinterland
Four/Sony
Casper erfindet ein neues Genre – und sein Post-Indie-HipHop-Pathos-Pop berührt. Falls man sich noch an seine Jugend erinnert
Ich find den ja gut! Auch wenn ich natürlich weiß, dass man sich mit einer Zuneigung zu Casper unter den Mitarbeitern und Lesern des ROLLING STONE eher in eine Minderheitenposition manövriert. Es bleibt aber dabei, dass es im massenbegeisterungsfähigen Pop in Deutschland zurzeit keinen besseren, prägnanteren Texter gibt und keinen Musiker, der seinen Stil so unermüdlich überholt und erneuert. Mit „XOXO “ brachte er vor zwei Jahren Würde, Pädagogik und Intelligenz zurück in den geistig und musikalisch verarmten deutschen HipHop. Mit „Hinterland“ hat er nun schon wieder ein neues Genre erfunden: den Post-Indie-HipHop-Pathos-Pop!
Gerappt wird kaum noch auf „Hinterland“, dafür gibt es umso mehr Reminiszenzen an Bruce Springsteen zu hören, schon lange ein erklärtes Idol von Casper. Die erste Single „Im Ascheregen“ ist gewissermaßen sein „Born To Run“, mit dem Bleifuß auf dem Gaspedal und lauter Musik aus dem Autoradio rast er darin über das Land und in die Zukunft hinein. Dazu hört man pophistorisch mal mehr, mal weniger wertvolle Zitate etwa von Slime und den Böhsen Onkelz sowie außerdem einen schön schiefen Kinderchor – ein reizvoller Kontrast zu der immer noch heiser-rauhen Stimme des Sängers.
Produziert wurde die Platte von Markus Ganter, der sonst für die Radiohead-trifft-Dubstep-Eleven von Sizarr verantwortlich ist, sowie von dem Befindlichkeits-Pomp-Meister Konstantin Gropper alias Get Well Soon. Gemeinsam lassen die drei genüsslich die Streicher flehen und das Piano sich pathetisch in den Himmel hochbuckeln; auch gibt es keine Powerchords mehr wie auf der letzten Platte, sondern nur noch helles Gitarrengeklingel wie aus dem sonnig-melancholischen Postpunk der 80er-Jahre. Schon auf „XOXO“ meinte man manchmal die flirrenden Flächen von Durutti Column zu hören; auf „Hinterland“ erinnert der Sound nun eher an die einstigen Durutti-Column-Schüler U2 oder an Aztec Camera und Orange Juice.
Kurz vor dem Ende – in „La Rue Morgue“ – steigt dann auch noch eine wuchtig tutende Big Band aus einem von Alligatoren besiedelten Sumpf, und Casper krächzt so neurotisch-erotisch wie ein Tom-Waits-Wiedergänger. Was das erste und bis auf Weiteres auch das einzige Mal ist, dass so etwas wie Erotik in seiner Musik eine Rolle spielt. Wenn Liebe vorkommt, dann sonst wieder nur im Zustand des Scheiterns wie in den herzzerreißenden Trennungschmerzliedern „Nach der Demo ging’s bergab“ oder „20 qm“. Gelingende Freundschaft kann sich Casper auch weiterhin nur in Form von Männergemeinschaften vorstellen, etwa in der Reminiszenz an seine alte Jugend-Gang „Alles endet (aber nie die Musik)“ oder in dem Lied „Ganz schön okay“, in dem er das Glück der endlosen Tournee mit guten Musikerkumpels preist.
Man kann das als Jugendzimmer-Lyrik abtun. Aber jeder, der schon mal ein Jugendzimmer bewohnte, wird darin etwas von sich selbst wiederfinden. Nur wenn man nicht vergisst, woher man kommt, versteht man die Sehnsucht, die immer noch an einem nagt.