Bon Iver
22, A Million
Der traut sich was: Der große Säuseler des Folkpop schreddert Stimme und Songs und lädt sie mit Elektronik auf
Wie sehr der Laptop, wie sehr elektronische Musik heute den Mainstream dominiert, zeigt nicht zuletzt auch das neue, lang erwartete Album der Folkpop-Sensibilisten Bon Iver. Zunächst: Vergesst die Zahlenmystik! Die 22 im Titel beziehungsweise die „gespiegelte 2“ bringe Justin Vernons „in der Dualität verhaftete Identität“ zum Ausdruck, wie es im von Bon-Iver-Trompeter Trevor Hagen gedichteten Waschzettel heißt. Sicher gibt es derlei Erklärungen auch für Songtitel wie „_45_“ oder „00000 Million“. Geschenkt. Das Album ist trotzdem gut.
„It might be over soon“, heißt es zu Beginn, auf ein Diktiergerät gesprochen und durch Auto-Tune gejagt. Ein Statement, das die weihevoll depressive Grundstimmung des Albums umreißt, das der auf einer Farm in Wisconsin lebende Einsiedler und gelegentliche Kanye-West-Sidekick aus etlichen Stunden Soundmaterial zusammengefrickelt hat. Nach dem Indiehit „For Emma, Forever Ago“ und der grammygekrönten Säuselei „Bon Iver, Bon Iver“ nun also „22, A Million“. Vernon liebt die Kommata. Aber nun hat er den Wumms entdeckt.
Wumms für immer
Ein wuchtiger, geklatschter Rhythmus, fiese Störfrequenzen, die sacht modulierte Stimme, die sich hochschraubt, das Brummen eines überdrehten Lautsprechers, ein subsonischer Bass, ein betörendes Höhersteigen, diffuse Bläser, die den Himmel über Wisconsin öffnen: „10 dEAThbREasT“ (diese Titel!), gleich der zweite Track, ist Höhepunkt und Konklusion dessen, was Bon Iver heute sein kann. Ein Folk-Autor, der sich die Mittel zeitgenössischer Elektronik zu eigen macht, um seine zerbrechlichen Songs fliegen zu lassen. In „33 ‚GOD‘ “ (diese Titel!) funktioniert es ähnlich toll: Auf dem Klavier begleitet Vernon seine unverwechselbare Fistelstimme, dann brechen krachige Drums herein, feist und prall wie bei „Running Up That Hill“, die Stimme bricht, „I could go forward in the light/Well, I better fold my clothes“.
Kitsch? Oh ja. Herrlicher Kitsch!
„29 #Strafford APTS“ (diese Titel!) klingt, als wäre Paul Simon Minnie Mouse und tanzte über den Broadway, in „666“ kehren die Donner-Drums zurück, in „21 MOOn Water“ dreht ein Saxofon frei. Doch gegen Ende verläppert das Album etwas, verlässt Vernon der Mut, werden die Tracks konventioneller, saumseliger, säuselnder. Man wünscht sich den Wumms zurück. Für immer.