Radiohead

Amnesiac

16 Jahre nach Erscheinen bleibt "Amnesiac" das am schwersten verdauliche Radiohead-Album. Es ist nicht besser als die Zwillings-Platte "Kid A", aber mutiger.

Der erste Streich kam Ende Oktober 2000, der zweite folgte im Mai 2001. Nur etwas mehr als sechs Monate lagen zwischen den Alben „Kid A“ und „Amnesiac“. Beide entstanden in denselben Aufnahme-Sessions – und doch scheinen sie aus zwei verschiedenen Welten zu stammen. Der Elfte September, als das World Trade Center einfiel, verschob die Wahrnehmung der Musik von Radiohead, kappte die Verbindung zwischen den Zwillingsalben. „Amnesiac“, mit dem die Band damals im Sommer auf Tour ging, bleibt bis heute mit den Terror-Anschlägen verbunden.

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„Kid A“ war das unschuldigere, politisch vagere Album. Thema: das „kleine Ich“ in der „immer stärker technisierten Welt“. Es benannte keine greifbaren Feinde. Es drehte sich vor allem um psychisches Leiden, Wunsch nach Ordnung der Dinge im Seelenleben („Everything In It’s Right Place“), Wunsch sich aufzulösen („How To Disappear Completely“); jenseits der eigenen Sorgenzone ging es um den Wunsch nach Stopp des Klimawandels, wie in „Idiotheque“. Die Musikwelt war derart überrascht von der elektronisch angehauchten Platte einer Rockband, dass eine zeitlang die Floskel „to do a Kid A“ kursierte – gültig für jeden Künstler, der seine Grenzen sprengt.

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Öl bestimmt die Präventionskriege

Dabei war „Amnesiac“ das schwerer zu verdauende Album. Nicht das bessere, aber das mutigere. Das Cover zierte ein weinender Minotaurus, Thom Yorkes neue Lieblingsfeinde, George W. Bush und Tony Blair, wurden in „You And Whose Army?“ angegangen. Spätestens mit Ausbruch des Dritten Golfkriegs 2003 erhielt das Lied einen Ehrenplatz in den Konzerten der Band, im Zugabenblock. In „Dollars and Cents“ beschreibt Yorke eine Welt, in der das Öl die Präventionskriege bestimmt, „We are the dollars and cents and the pounds and pence / (Why don’t you quiet down?) / We’re gonna crack your little souls“.

Das nur etwas mehr als eine Minute lange Instrumental „Hunting Bears“ klang ebenso meditativ wie verstörend – die Gitarre zog ihre Bahnen wie eine Klinge, die langsam die Luft schnitt. Als Radiohead „Hunting Bears“ gleich als zweites Stück bei ihrem Berliner Konzert am 11. September 2001 aufführten, war das ein Showstopper, der allen Setlist-Gesetzen widersprach – und gerade deshalb den Irrsinn spiegelte, wie er in der Welt von nun an herrschen sollte.

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Kritiker werfen der Band vor, dass „Amnesiac“ wie eine Sammlung klassischer Singles mit angehängten experimentellen B-Seiten wirke. Das könnte zwar die Tracklist nahelegen – Gitarren/Klavierstücke wechseln sich mit Gefrickel ab –, wird aber der Idee der Band nicht gerecht.

Zwei Richtungen: Wohin?

Die fünf Musiker standen mit ihrem fünften Album wirklich am Scheideweg. Yorke zog es hin zu anderen Genres, das so genannte „Indietronic“ war nie größer als zur Jahrtausendwende. Vor allem Rhythmusgitarrist Ed O’Brien aber wünschte sich, auch, um seine Rolle weiter ausüben zu können, das alte Rock-Arrangement.

Also enthielt die Platte zwei Richtungen. Ironischerweise sollte es dann der „Amnesiac“-Nachfolger „Hail To The Thief“ von 2003 sein, der auf beiden Ebenen nicht voll überzeugte – mit den elektronischen Songs nicht ganz („Backdrifts“), und auf der organisch gespielten Bandebene auch nicht („Go To Sleep“).

Das radikalste „Kid A“-Statement bestand darin, dass die ersten Gitarren erst nach rund 15 Minuten zu hören gewesen waren, auf Track vier, „How To Disappear Completely“. Außerdem verzichtete die Band auf Single-Auskopplungen. Von „Amnesiac“ warfen Radiohead gleich drei auf den Markt. Das wahnsinnig schöne Selbstmörder-Lied „Pyramid Song“ etablierte Thom Yorke als sich windenden Klavierspieler, seine überzeugendste Bühnen-Darstellung; und Phil Selway spielte dazu ein Schlagzeug, das ihn zumindest für einen Moment zum wichtigsten Bandmitglied machte. Die Smiths-Hommage „Knives Out“ gilt als Musterbeispiel für perfektionistische Studioarbeit á la Radiohead. Die Musiker brachten in Interviews selbst in Umlauf, dass mehrere hundert Fassungen allein dieses Stücks existieren würden.

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Erst die dritte Single, „I Might Be Wrong“ machte ein Problem deutlich, unter dem seit „Amnesiac“ immer wieder Radiohead-Songs leiden. Zu starkes Vertrauen auf ein einziges Gitarren-Riff (oder einen Effekt), Verzicht auf einen sich abhebenden Chorus. Möglicherweise „Ausdruck einer Verweigerungshaltung“. Mit anderen Worten: „I Might Be Wrong“ ist ein eher langweiliges Lied. Auch das repetitive, mit gutem Willen noch als „minimalistisch“ zu bezeichnende „Pulk/Pull Revolving Doors“ hätte man wohl keiner anderen Band dieser Größenordnung durchgelassen.

Von hier an nur noch Risiko

Wenn Thom Yorke beschließt, „Like Spinning Plates“ durch den Wolf zu drehen und eine Melodie rückwärts zu spielen, dann liest sich das als „interessante Produktionsnotiz“, beschädigt aber das Material – das lässt sich im Vergleich mit der Live-Version feststellen, in der Yorke im normalen Durchlauf spielt. „Life in A Glasshouse“ bediente die neue Dramaturgie der sonst auf Understatement setzenden Gruppe, mit ihrem Schluss-Stück einen Nachhall setzen zu wollen. Hier sind es die unvermuteten Bläser, auf „Motion Picture Soundtrack“ von „Kid A“ die wahrscheinlich inflationärste Floskel, mit der ein Album enden kann: „I Will See You In The Next Life“.

Radiohead

Damit sind zwar vier von elf Liedern Ausschussware, das ist keine schlechte Quote. „Amnesiac“ zementierte das „Kid A“-Konzept, nach dem Radiohead nur noch dann Rockmusik machen würden, wenn sonst keine andere Studio-Idee gezündet hat. Die Gefahr Hörer zu vergrätzen besteht seitdem, und die Band geht das Risiko mit jeder neuen Veröffentlichung ein.

„Amnesiac“ stieg in den USA auf Platz zwei ein, einen Platz hinter „Kid A“, verkaufte sich aber besser als der Vorgänger. Gewagt, gewonnen. Fortan aber würden Radiohead sich an diesem Album messen lassen müssen, das nach eigenen Regeln zum Big Seller wurde.

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