Review: „Twin Peaks“, Staffel 3, Folge 6: Die allergrößte Überraschung ist perfekt
Es gibt SIE wirklich: In der aktuellen Episode von „Twin Peaks“ lernen wir jemanden kennen, von dem wir bislang immer nur gehört hatten.
Erstaunlich, dass sich David Lynch in seinem bisherigen Werk nie übermäßig für Kinder interessiert hatte, obwohl sie – wegen ihren fantasievollen Interpretationen von Wirklichkeit und Traumerlebnissen – nur zu gut für die codierten Stoffe des Regisseurs geeignet wären.
Die aktuelle, sechste Folge der dritten „Twin Peaks“-Staffel stellt jedoch gleich zwei Kinder in den Mittelpunkt. Beide geben zwei Erwachsenen – mehr oder weniger direkt – Hinweise, wie sie ihr weiteres Leben gestalten sollten. Sonny Jim (Pierce Gagnon), Dougies Sohn, scheint als einziger Mensch angemessen mit dem Buster-Keaton-artigen, geistigen Total-Ausfall des Vaters (Kyle McLachlan) umzugehen: mit depressiver Verstimmung. Er versucht gar nicht erst, Daddy wieder in den Alltag zu integrieren. Der Junge redet kaum noch, und Dougie verdrückte für ihn, seine bislang einzige tiefe Gefühlsregung, ein paar Tränchen.
Das Licht bringt Vater und Sohn wieder zusammen. Das Licht der Lampe im Kindezimmer, das sich per Handklatschen ein- und ausschalten lässt. Beide klatschen und lachen. An, aus. Dieses Licht wird wohl noch eine größere Rolle spielen in „Twin Peaks“, für Dougie ist es wie ein Leuchtturm: Es wies ihm im Casino den Weg zu den Einarmigen Banditen, es wies ihn an, seinen Arbeitskollegen Sinclair (Tom Sizemore) vor versammelter Runde als Lügner zu bezeichnen, es zeigte ihm, wo er auf den Unterlagen seiner Versicherung eine Leiter zu malen habe. Andere Väter drücken ihren Söhnen beim Schlafengehen einen Kuss auf die Stirn, Dougie legt seinem Sonny Jim zärtlich einen Paprika-Chip auf die Bettdecke.
Von geradezu brutaler Klarheit ist die andere Szene, in der wieder ein Junge eine tragische Rolle spielt. Richard Horne (Eamon Farren) überfährt auf der Straße ein Kind und verletzt es tödlich (wie viele Regisseure hätten da das „Nooooooooo!“ der Mutter in Zeitlupe inszeniert, dazu einen „Gott, wie konntest Du das zulassen!“-Zoom vom Asphalt in den Himmel? Nichts für Lynch, der vor allem die schockierten Passanten zeigt).
Geist in den Wipfeln
Das Geschehen wird auch von Carl Rodd (Harry Dean Stanton) beobachtet, und die Einführung seiner Figur bis hin zur Tötung des Jungen lehrt uns manches über das Leben und den Tod, das Glück und das Schicksal, und wie ein einziger Mensch innerhalb von Minuten an die „Wunder des Lebens“ zu glauben lernt. Eben noch schwang Carl sich in sein Auto, lachte sich ins Fäustchen, weil er den Sensemann warten lässt („Ich rauche seit 75 Jahren, jeden einzelnen Tag“), dann betrachtete er, im Park auf einer Bank, das Licht, wie es in den Baumwipfeln spielt – die Schönheit der Natur, das Wunder, in dem er lebt. Als Carl dann vom Aufprall des tödlichen Unfalls in seiner Ruhe geweckt wird und zum Tatort eilt, ist die Offenbarung für ihn perfekt. Er sieht einen Geist aufsteigen, er versucht die Mutter zu trösten, denn für ihn hat nun alles seine Vorhersehung.
Überhaupt „75 Jahre am Rauchen, der Tod muss warten“: In „Paris Texas“ kam uns Harry Dean Stanton 1984 schon nicht mehr ganz jung vor, man freute sich über jene Art „späten Erfolg eines Charakterdarstellers“. In Lynchs „The Straight Story“ von 1999 dachte man bereits: Toll, der hält sich ja halbwegs. In der „Straight Story“ sah er dann wirklich so alt aus, wie er war, 72. Dass Stanton in der TV-Serie „Big Love“ ab 2006 bewies, dass er auch als richtig alter Mann ein perfektes Scheusal spielen kann, war unglaublich. Da konnte man nur noch ahnen, wie alt er wohl sein musste.
Nun ist er 90 und spielt weiter, hier in einer vielleicht tragenden Rolle. Die ist auch sein Gruß an das Leben – und an den Tod.
Die sechste Folge bietet weitere gelungene Einzelmomente: Lynch zeigt, wie viel er generell vom Korpsgeist der Staatsbeamten hält. Als sich ein Neuankömmling in der Polizeiwache von Twin Peaks über den Suizid eines US-Army-Soldaten lustig macht, befördert er sich augenblicklich ins soziale Abseits.
Janey (Naomi Watts) ruft zwei Kleinkriminellen (darunter der unangenehme, immer denselben Typ „verhuschter Psycho“ spielende Jeremy Davies) zu: „Wir leben in einem dunklen Zeitalter, und ihr seid das Problem!“ Damit liefert Janey auch die exakte Beschreibung jener Welt, der der Regisseur Lynch seine ganze Leidenschaft widmet.
Hier ist sie (Spoiler-Hinweis!)
Albert Rosenfield (Miguel Ferrer) kämpft sich durch den Regen („Fuck Gene Kelly! You Motherfucker!“) in eine Bar. Er trifft darin auf Laura Dern, deren Hilfe das FBI dringend benötigt. Er sagt ihren Rollen-Namen, damit sie sich von der Theke zu ihm umdreht. Rosenfield sagt: „Diane.“
Damit ist Special Agent Dale Cooper, FBI, freigesprochen: Es gibt Diane wirklich. „Diane“ war nicht das Aufnahmegerät aus Staffel eins und zwei, Diane war immer schon eine Frau (in den Deleted Scenes der „Complete Mystery“-Box von „Twin Peaks“ wurde das bereits angedeutet).
Dale Cooper hatte also Spleens – verrückt aber war er nie.