Review: Morrissey live in Berlin – Der 100-Prozent-Mann
Er kam, sah … trauerte, klagte, seufzte und siegte: Morrissey live im Berliner SchwuZ.
Kein Torture Porn, keine Fleischfabriken, keine aufgespießten Torreros, keine kindlichen Wortspiele wie „United King-Dumb“. Lediglich ein einziges Wort steht auf der Leinwand: MORRISSEY. Wie wohltuend präzise das endlich wieder ist! Bei seinem Clubgig im Berliner SchwuZ (bei Arte bis Donnerstagabend im Stream, danach wird es einen weiteren Sendetermin geben) erinnert der 58-Jährige nach langer Zeit wieder daran, dass er Weltruhm als Lyriker genießt – nicht als Aktivist und Videokünstler.
Seine oft blutrünstigen Clips dominierten die Eindrücke der letzten Großtourneen arg. Nun tritt Morrissey ans Mikro und eröffnet das Konzert mit den Worten: „There is a grey cloud over Berlin. And this“, er zeigt auf sich, „is me.“ Beim Opener „Alma Matters“ verschränkt er die Arme vor der Brust und bringt sogleich seine Weltsicht auf den Punkt: „So the life I have made may seem wrong to you / But, I’ve never been surer /It’s my life to ruin.“
An diesem Abend präsentiert Morrissey aber vor allem Songs seines im November erscheinenden Albums „Low in High-School“. Wie klingt diese Art Poesie in unseren Ohren? Wenn alles gut lief bei Morrissey, waren die Lieder stets so gut wie ihre Titel („Stop Me If You Think You’ve Heard This One Before“). Wenn es nicht so gut lief, waren die Titel viel besser als ihre Lieder („World Peace Is None Of Your Business“). Morrisseys kommende, elfte Studioplatte bricht womöglich mit der Regel, weil die Songs nach den ersten Eindrücken besser zu sein scheinen als ihre Titel: „Spent The Day In Bed“ mit seinem fast schon R&B-artigen Arrangement ist ungewöhnlich, aber ungewöhnlich mutig. Genauso mutig wie die darin enthaltene Aufforderung „Stop Watching The News!“, was sich in der heutigen Zeit eigentlich keiner erlauben sollte, geht es doch darum, die richtigen News eben doch wahrzunehmen.
Vergebt den Freunden nicht
„Home Is A Question Mark“ hat ebenso einen angestrengt klingenden Titel, ist aber ein Höhepunkt des neuen Werks: Es setzt mit einem weihnachtlichen Schellenkranz ein, man denkt zunächst an Chris Reas „Driving Home For Christmas“ – nur dass Morrissey natürlich nicht über Geborgenheit, sondern über Entwurzelung singen wird.
Später leistet er sich bei der Ansage zu „Meat Is Murder“ einen großartigen freudschen Versprecher, den er sogleich korrigiert. Es ist ein freudscher Versprecher, den vielleicht nur Morrissey bringen kann: „Never Forgive Your Friends“, sagt er. Dann: „ I Mean, Never FORGET Your Friends.“ Dürften die Fans beim „Berlin Live“-Abend sich einen der vielen tollen Smiths-Song wünschen, „Meat Is Murder“ würde vielleicht nicht mal in den Top 20 landen. Aber für Morrissey ist es das womöglich wichtigste Lied seiner früheren Karriere.
Für seine politischen Aussagen ist der ehemalige Smiths-Sänger berüchtigt, etwas in Vergessenheit gerät dabei immer wieder, dass er nicht einfach nur labert. Man muss mit ihm zwar nicht übereinstimmen. Aber er versucht wenigstens zu überzeugen. Morrissey beherrscht wie kaum ein anderer Popmusik-Texter die Methode Postulat-aber-plus-Erklärung.
Deshalb verbindet er Aussagen immer wieder mit einem „Because“, das als einzelnes, gedehntes Wort seine eigene Songzeile zu erhalten scheint. „When you try to break my spirit it won’t work / Because / there’s nothing left to break“, oder „The bullfighter dies and nobody cries / Nobody cries /Because / we all want the bull to survive.“ Gerade seine Lieder der letzten zehn Jahre wirken wieder etwas erzählerischer als strikt an eine Vers-Chorus-Struktur gebunden. Vielleicht, weil er so viel zu sagen hat.
Seit Beginn seiner Karriere 1982 haftet Morrissey in der Beschreibung seiner Musik hierzulande das „Hach!“-Wort an. Nicht mal bei schlechten Kritiken – sondern ausgerechnet bei wohlwollenden. Das ist erstaunlich. Weil „Hach!“ jeden verniedlicht. Als inszeniere Morrissey eine Wehleidigkeit, ein „Baden in Gefühlen“. Aber es besteht kein Zweifel, dass er alles ernst meint; es geht ihm oft schlecht, wenn er singt; und er freut sich, wenn Fans ihn anfassen wollen.
„You Break Through The Barricades“, ruft er dann ins Publikum, etliche Fan-Hände streifen seine. Vor drei Jahren machte er eine Krebserkrankung öffentlich, so richtig Morrissey-style: „If I Die, Then I Die. And If I Don’t, Then I Don’t“. Bis heute weiß die Öffentlichkeit nicht, wie es ihm inzwischen geht. Aber er gilt als Überlebender.
Dass ihm eine gewisse Leichtigkeit abhanden gekommen ist, gehört vielleicht dazu. Jeder schwitzt auf der Bühne, wenn man einen Anzug trägt, aber Morrissey wirkt angespannt. Nicht nur in der Körpersprache, einmal auch verbal. Geradezu passiv-aggressiv erscheint seine Spaß-Ansage, die neue Single-Auskopplung und Album würden in Deutschland auf den „Plätzen 81 oder 82“ bzw. 180 landen.
Aber das sind nur Kleinigkeiten, die etwas schräg wirken. Vielleicht nur Anlaufschwierigkeiten. Er kämpft, das zählt. Morrissey gelingt ein überzeugender Kurzauftritt, dem sich sicherlich eine Europatournee anschließen wird. Und Morrissey gelingt immer noch etwas, das nur wenige in seiner Branche schaffen: Er verbindet Wut mit Ironie und Lakonie zu konstruktiver Musik.
Nach dem Pretenders-Cover „Back On The Chain Gang“ ist das Konzert vorbei, Morrissey will die Bühne verlassen – und zögert. Er wischt er sich den Schweiß von seiner Stirn. Sieht seine schweißnasse Hand an. Wischt sie am Schulterpolster seines Smokings ab. Bevor er eine Linksdrehung macht und geht. Was für ein Abgang.
Das Konzert von Morrissey in Berlin ist zur Zeit als Stream auf Arte Concert zu sehen. Am 22. Dezember 2017 überträgt es arte um 21.45 Uhr auch im Hauptprogramm.
Setlist:
Alma Matters
I Wish You Lonely
Speedway
I’m Throwing My Arms Around Paris
Istanbul
Spent the Day in Bed
Home Is a Question Mark
My Love, I’d Do Anything for You
World Peace Is None of Your Business
The Bullfighter Dies
All the Young People Must Fall in Love
When You Open Your Legs
Meat Is Murder
Back on the Chain Gang