Retro-Perspektive

Zum zehnjährigen Bandjubiläum nähern sich Wilco ihren alten Songs auf einem Livealbum mit einem neuen Blickwinkel

Die Leute fragen oft: Wenn du dein Leben noch einmal leben müßtest, würdest du dies oder das tun? Soll heißen – würdest du die selben Fehler noch mal machen? Wenn’s um les amoures geht, bin ich mir nicht sicher, wenn’s um Wasserfarben geht: ja. Denn ich habe durch meine Bilder gelernt, nicht zu viel darüber zu grübeln, mich nicht zu sehr zu sorgen. Wir müssen nicht jeden Tag ein Meisterwerk erschaffen.“

Diese Passage stammt aus einem Text von Henry Miller über seine Wasserfarbbilder. Gefunden habe ich ihn in „The Wilco Book“, einem Buch mit Bildern, Fotos und Texten, die allerdings nicht alle auf den ersten Blick mit der Band Wilco in Verbindung zu stehen scheinen. „Das ist natürlich sehr esoterisch“, lacht Jeff Tweedy, der gerade mit seinen Kindern telefoniert hat, die ihren ersten Schultag haben, und sieht, daß ich staunend in dem Buch blättere. „Hier geht’s darum, wie wir die Band sehen. Teilweise ist das sehr abstrakt. Bei manchen Sachen weiß ich auch nicht, warum, aber sie inspirieren uns, sie sind einfach schön. Das ist eine Art visuelle Analogie zu unserer Musik und dem Ort, von dem sie kommt. Und bei Wilco geht es ja darum, andere Leute zu ermutigen, ihre eigene Phantasie zu benutzen, sich hinzusetzen und aktiv an der Hörerfahrung mitzuwirken. Alles, was dabei herauskommt, ist willkommen.“

Man hat allerdings nicht selten das Gefühl, daß die Leute längst aufgehört haben, sich ein Bild von Wilcos Musik zu machen. Während die Band sich immer weiter bewegt, sich – auch personell – stetig verändert und die alten Songs – wie auf dem dieser Tage erscheinenden Live-Album „Kicking Television“ – modifiziert, hängt im musikalischen Gedächtnis vieler Hörer immer noch das Schildchen: „Wilco = Americana“.

„Es gibt da jede Menge Mythen, die sich um die Band ranken , meint Tweedy, „und es spielt eigentlich keine Rolle, was wir tun: Die immer noch verbreitet herrschende Wahrnehmung ist, diese Band sei direkt aus dem Dust Bowl auf die Bühne geweht.“

Aber auch wenn Tweedy hier den Kopf schüttelt, distanziert er sich doch keineswegs von den Songs, die diese Vermutung einst nährten. Denn „Kicking Television“ ist im besten Sinne eine Retrospektive, ein Blick in den Rückspiegel, ohne die Straße aus dem Auge zu verlieren und vor die Retrowand zu donnern. „Nach zehn Jahren dachte ich, es sei mal Zeit, kurz zurückzuschauen und dann weiterzugehen. Ich glaube, daß Live-Alben dann am besten sind, wenn es auf ihnen eine gesunde Anzahl von Verbesserungen gegenüber den Originalaufnahmen gibt, und ich denke, mit der jetztigen Besetzung haben wir vieles verbessert.“

Pat Sansone und vor allem Gitarrist Nels Cline, die seit den Aufnahmen von „A Ghost Is Born“ zur Band gestoßen sind, haben Wilcos Dynamik subtil verändert. Einerseits hat die Band durch die sechsköpfige Besetzung die Chance, auch aufwendige Arrangements live zu reproduzieren, andererseits kann sie durch in Improvisation geschulte Musiker wesentlich freier mit dem alten Material umgehen. Die perfekte Mischung aus Retrospektive und Erneuerung. „Das sollte immer zusammengehen. Nicht nur in der Musik. Man sollte immer versuchen, sich in diesem Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft zu bewegen. Viele Leute schauen nur zurück, andere machen sich andauernd Sorgen um die Zukunft. Das Gleiche in der Musik. Wenn du dich nur mit der Vergangenheit beschäftigst, hörst du auf, wirklich daran teilzunehmen; wenn du dir immer nur Gedanken machst, wie du Musik machen kannst, die noch niemals zuvor gemacht wurde, wirst du auch scheitern und die musikalische Entwicklung wird dir davonlaufen. Fortschritt passiert nicht über Nacht und wird nicht von einer Person allein vollbracht. Das ist eine kollektive Bewegung.“

Da kann man schon gespannt sein, wie sich das auf dem nächsten Album anhören wird. Denn bereits im August haben Wilco 13 neue Songs aufgenommen. Vier oder fünf seien quasi fertig, die anderen in unterschiedlichen Stadien der Vollendung. Wie das am Ende klingen werde, wisse er noch nicht, meint Tweedy, schließlich komme irgendwann wohl auch wieder Jim O‘ Rourke ins Spiel, und man werde die Sachen zusammen mit ihm noch mal kräftig aufmischen.

Eine DVD mit von Sam Jones gefilmten Konzertimpressionen aus dem Chicagoer Vic Theatre, die zeitgleich mit „Kicking Television“ erscheinen sollte, wurde fürs erste zurückgezogen. „Wir denken, daß es cooler ist, nur das Album zu veröffentlichen. Leave the mystery to the music.“ Die Bilder sind also der Phantasie des Hörers überlassen. Vielleicht kann er sie selbst malen. Mit Wasserfarben.

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