Reeperbahn Festival: ROLLING STONE Night am Samstag – Lieder über Saufen, Sex und das Bereuen von Sex
Im Grünspan präsentierte ROLLING STONE Konzerte von Blood Red Shoes und Arab Strap sowie die erste Performance von Stimming mit dem NDR Vokalensemble
Noch dümpelt eine Drum Machine. Laura-Mary Carter, die E-Gitarre umgeschwungen, wippt im Takt. Steven Ansell sitzt hinterm Schlagzeug. Sie warten. Sie warten. Sie warten. Und dann ballern sie los. Die Drum Machine wird niedergeknüppelt, Carter feuert mächtige Power-Akkorde in die Menge, es ist eine ohrenflatternde Energie, die sie hier plötzlich freisetzen. Carter und Ansell sind die Blood Red Shoes, und mit ihnen beginnt die ROLLING STONE Night beim Reeperbahn Festival.
Es ist Samstagabend, das Grünspan ist völlig ausgelastet. Auf der Großen Freiheit stehen die Leute Schlange, um noch in den Club zu kommen und die beiden Briten zu sehen. Die wiederum haben offenbar nicht damit gerechnet, dass so viele Fans hier sein würden, und spielen eine Art Greatest-Hits-Festival-Set. „It’s Getting Boring By The Sea“, dieser Torpedo von einem Song, der mit gnadenloser Energie nach vorne drescht, kommt sehr früh im Set. „Ist jemand hier, der uns damals im alten Molotow gesehen hat?“, ruft Ansell. Zustimmendes Jubeln aus allen Ecken des Clubs.
Die Band lebt von dem Wechselspiel der beiden; sie ringen miteinander, scheinen eine Art Wettkampf am Laufen zu haben, wer den größeren Lärm produzieren kann, und, naja, es ist wohl ein Unentschieden. Wobei Ansell vielleicht doch gewinnt, weil er beim Schlagzeugen auch noch beeindruckend kräftig singen bzw. schreien kann. Carters Gesang ist melodischer, gefühlvoller, stimmungsvoller. Hier und da kommen Synthesizer vom Band; die neuen Platten haben ja einige elektronische Elemente. Am besten sind Blood Red Shoes aber, wenn sie sich einfach aufeinander konzentrieren, wenn ihr Sound die zackige Summe ihrer beiden Teile ist.
Traurige Lieder über Sex
Danach ein Tempowechsel. Die BPM-Zahl wird halbiert, mindestens: Jetzt kommen Arab Strap, die schottischen Slowcore-Veteranen. Noch ein Duo, aber der Kontrast könnte kaum größer sein. Aidan Moffat und Malcolm Middleton betreten die Bühne unauffällig, spielen leise los. Der Text jedoch ist weniger unauffällig: „It was the biggest cock you’ve ever seen“, singt Aidan Moffat. „But you’ve no idea where that cock has been.“ Es gibt schlechtere Zeilen, mit denen man ein Konzert eröffnen kann.
Die Leute stehen nicht mehr ganz so dicht zusammen wie bei Blood Red Shoes. Es ist fast so, als wären depressive Lieder über Saufen, Sex und das Bereuen von Sex keine Crowdpleaser! Die beiden Schotten spielen ihr Album „Philophobia“ von 1998 in voller Länge. Moffats gealterter Bariton klingt reicher und wärmer als auf den Aufnahmen. Er verleiht den Liedern mehr Melancholie und Gefühl, sie klingen eher schwermütig und traurig, nicht mehr so konfrontativ. Moffat ist mittlerweile ein beleibter Mann mit buschigem, grauen Bart; er hat etwas Großväterliches, wie er da steht und mit seinem Schlagstock sanft das Becken touchiert, das neben ihm steht. Malcolm Middleton starrt währenddessen auf seine Füße, ist der leiseste aller Shoegazer und spielt seine schöne Gretsch-Gitarre über die Beats vom Band.
Musik für ravende Mönche
Das Finale der ROLLING STONE Night ist danach eine Premiere, das Aufeinandertreffen zweier musikalischer Welten. Der elektronische Musiker Stimming hat mit den Sänger*innen des NDR Vokalensembles unter der Leitung von Chefdirigent Klaas Stok klassische Werke der Chormusik neu einstudiert. Er ergänzt die Gesänge um Bässe, Beats, Synths und Field Recordings, die er auf seinem Ableton Push 3-Controller vor sich hat. Sein Equipment ist also state of the art, und trifft auf Stücke, die vor vierhundert Jahren komponiert wurden. Die sakralen Gesänge schweben ominös im Raum, schwellen mit unheimlicher Dynamik an, während Stimming seine Beats dagegenlaufen lässt. Musik für Mönche, die in der Dunkelheit raven. Ein Abend, der mit Blood Red Shoes begonnen hat und mit Arab Strap weiterging, kann ja eigentlich nur mit Johann Sebastian Bach enden.