Reeds Revision
Das Album galt als deprimierend und schwer erträglich. 25 Jahre später filmte Julian Schnabel "Lou Reed's Berlin" auf einer New Yorker Bühne und rehabilitierte damit die Geschichte einer verzweifelten Liebe.
Lester Bangs nannte es einst „das deprimierendste Album aller Zeiten“. „What .Berlin really reminds me of“, schrieb er 1973 im Musikmagazin „Creem“, „is the bastard progeny of a drunken flaccid tumble between Tennessee Williams and Hubert Selby Jr.“ Das kann man durchaus als Kompliment verstehen, kam aber nirgends so an. Geächtet von den Kritikern und von den Fans gemieden geriet Lou Reeds drittes Soloalbum zu einem grandiosen Flop. Gleichwohl war damit eine Legende geschaffen. Wie auch viele Werke des Kinos und der Literatur, die bei ihrer Veröffentlichung unverstanden blieben, entwickelte sich das Konzeptalbum über die Jahre zu einem Klassiker.
Auf „Berlin“ erzählt Reed die tragische Liebesgeschichte des Junkie-Paares Jim und Caroline. Zwar kam er erstmals 1975 in die geteilte Stadt, wo er bei David Bowie und Iggy Pop wohnte. Als Symbol der Tristesse ist sein Melodram aber treffend verortet. Dass die Platte scheitern musste, wird im Rückblick klar. Kurz nach dem Glam- Rock-Album „Transformer“ mit dem Hit „Walk On The Wild Side“ widersprachen die sperrigen, kargen Stücke den Erwartungen. Und die niederschmetternde, trostlose Poesie passte so gar nicht in jene Zeit.
Denn Sex, Drugs & Rock’n’Roll waren damals noch keine Phrase, sondern das, was auf den Partys der Boheme zwischen London, New York und L.A. abging. Selbstzerstörerische Exzesse galten ja als kreative Bewusstseinserweiterung. Und die ersten jungen, prominenten Toten dieser Gegenkultur wie Janis Joplin, Jimi Hendrix und Jim Morrison wurden eher als Märtyrer verklärt. Nun sang Reed: „But she’s not afraid to die/ All of her friends call her Alaska/ When she takes speed, they laugh and ask her/ What is in her mind, what is in her mind.“ Und fragte höhnisch: „How do you think it feels/ When you’ve been up for five days?/ How do you think it feels/ To always make love by proxy?“
Reed kannte sich damit aus, hatte er doch schon bei The Velvet Underground trotz düsterer Selbstreflexion der eigenen Sucht die Coolness dieser Lebenshaltung mit geformt. „Heroin“ gehört als Hymne zu den großen Missverständnissen der Rockmusik. „Berlin“ thematisiert aber unzweideutig den unentrinnbaren Sog von Drogen, Gewalt, Verzweiflung, Verlust und Suizid. Zudem fehlt seinem Drama eine märchenhafte Note wie bei der Rock-Oper „Tommy“ von The Who und jegliche Ironie, die man von Reed kannte. Er hielt den Reigen immer für seine persönlichste Arbeit, eine Zäsur in seiner Karriere, sein Meisterwerk. Die Schmach der Ablehnung verletzte ihn allerdings derart, dass er die Songs nie live gespielt hat.
Bis 2006. Da überzeugte ihn sein langjähriger Freund, der Bildhauer, Maler und Regisseur Julian Schnabel, das Album endlich auf die Bühne zu bringen. Ohne Pomp und Schauspieler, datür mit Streicher- und Bläserensemble, einem zwölfköpfigen Mädchenchor, zwei Bassisten sowie dem Gitarristen Steve Hunter, der bereits bei der Studioaufnahme dabei war. Es sollte kein Theaterabend mit Musik werden, der die Story zu prätentiös erscheinen lassen könnte, sondern ein Konzert, eine Rock-Session, eine musikalische Neuinterpretation. Das Ergebnis ist in der Tat fulminant, kraftvoll, beseelt, emotional, von allem Schnickschnack befreit. In dieser Form wäre womöglich auch das Album damals positiver rezipiert worden. Aber man wäre um eine spannende Episode und einen Höhepunkt ärmer.
Der Auftritt im St. Anns Warehouse in New York beginnt mit dem Refrain des „Sad Song“, der den Liederzyklus eigentlich beschließt, aber vom Brooklyn Youth Chorus als Ouvertüre lieblich
gesäuselt wird und nach dem „Happy Birthday“-Ständchen in die klare Pianomelodie des Titelstücks übergeht. „In Berlin, by the wall/ You were five foot ten inches tall“, spricht Reed die ersten Zeilen und wirkt sichtlich ergriffen von diesem Moment. „It was very nice/ Hey honey, it was paradise.“ Doch schon in „Lady Day“ lässt er es mit schneidenden Riffs krachen. „Men Of Good Fortune“ ist reiner Blues-Rock, der sich energisch steigert. „The rich son waits for his father to die“, bricht es aus Reed mit erhobener Faust heraus. „The poor just drink and cry.“ Im mitreißenden „Caroline Says I“ schwingt sich der Chor zum Gospel auf, während der Bass rollt und Reed sich mit Hunter an der Gitarre misst. „How Do You Think I Feel“ wird von Hunters vibrierendem Solo und schmissigen Bläsern dominiert. Fast schon jazzig ist „Oh Jim“, und bei der Ballade „Caroline Says II“ klingt Reeds Sprechgesang zur Akustikgitarre so verzweifelt, ja verwirrt, dass es einem das Herz zerreißt.
Nach „The Kids“, wenn Caroline ihre Kinder verliert, und ihrem Selbstmord im psychedelischen „The Bed“ endet der zehnte Akt mit dem wehmütigen „Sad Song“, bei dem die Mädchen engelhaft gegen die eruptiven, sich zum Crescendo auftürmenden Gitarrenklänge ansingen.
Die Zugaben stammen nicht von „Berlin“, reihen sich aber perfekt in die Stimmung ein. Ein magischer Augenblick ist „Candy Says“, ein Stück vom Album „The Velvet Underground“, das der Hermaphrodit Antony Hegarty mit einem so flehentlichen, fragilen Vibrato zelebriert, dass ihm hinterher sogar Reed applaudiert. Das gehauchte „Rock Minuet“ von „Ecstasy‘ fällt erhebend ins Feedback. Und als Lou Reed schließlich das knarzige „Sweet Jane“ von „Rock’n’Roll Animal“ anstimmt, haut er lächelnd in die Saiten, als sei eine Last von ihm gefallen.
Als er „Berlin“ das erste Mal hörte, erzählt Julian Schnabel, habe er gedacht: „Das klingt wie der Soundtrack meines Lebens.“ Neben der Inszenierung gestaltete er das Bühnendekor, das zwischen Off-Broadway und Übungskeller eine intime Atmosphäre wahrt. Über die bemalten Vorhänge flimmern verschwommene, stumme Szenen aus dem Leben von Jim und Caroline, die Schnabels Tochter Lola gedreht hat und wie Collagen dramaturgisch geschickt zur Musik eingefügt werden.
Caroline wird dargestellt von Roman Polanskis Frau Emmanuelle Seigner („Bitter Moon“), die dann auch in Schnabels „Schmetterling und Taucherglocke“ mitspielte, womit er 2008 den Golden Globe für die beste Regie gewann. Und Kamerafrau Ellen Kuras, die auch an Jonathan Demmes „Neil Young: Heart Of Gold“ sowie Martin Scorseses „No Direction Home“ und „Shine A Light“ mitarbeitete, bleibt dicht an der Band. Publikum und Beifall werden dabei größtenteils ausgeblendet. Nur am Schluss, als der Bann gebrochen, das Werk vollendet ist und die Dämonen gebändigt sind, wird der Blick auf die Bühne von Standing Ovations verdeckt.
Nach den fünf ausverkauften Vorstellungen im St. Anns Warehouse ging Lou Reed mit der Aufführung erfolgreich auf eine längere Tournee. Und endlich trat er auch in der Stadt auf, die dem Album seinen Namen gegeben hat.
„Berlin“, der lange verlorene Geniestreich, ist seither endgültig rehabilitiert. Ob Lou Reed aber auch die Schmähungen von damals überwunden hat, ist nicht gewiss. Beim von Robert De Niro initiierten Tribeca-Film-Festival in New York 2008 entgegnete der notorisch und gefährlich Übellaunige auf die Frage einer Journalistin, wie er denn über das radikale Urteil von Lester Bangs heute denke: „Who was Lester Bangs?“