Record/Play: Der Kassettenrekorder ist der neue Schallplattenspieler
Es gibt sie noch: Kassettenrekorder entwickeln sich nun endgültig zum Retrokultgerät. Mit zum Teil absurden Folgen.
Dinosaurier oder Säbelzahntiger sterben aus. Überkommene Technologien werden zu Kultobjekten. Warum ausgerechnet 2015 landauf, landab von Kassetten-Labels die Rede ist, soll hier nicht abschließend erörtert werden (siehe auch RS 6/15). Auf jeden Fall verorten Blogspots wie Cassette Anarchy das vor mittlerweile 52 Jahren von Philips eingeführte Aufnahme-und-Abspielsystem in einen musikalischen Underground, der mehr will als nur originelles Retrodesign. Hier wird der Tonträger vielmehr mit einer radikalen Lo-Fi-Ästhetik verbunden.
Dabei stellt sich die Frage: Wer fertigt überhaupt noch die entsprechende Hardware? Die Gesellschaft für Unterhaltungselektronik hatte bereits im Kassetten-Jubiläumsjahr 2013 erklärt, dass sich die offiziellen Absatzzahlen sowohl für CD- als auch für Kassettenspieler nunmehr „im homöopathischen Bereich“ bewegen: kaum noch messbar, aber immerhin noch da. Technische Neuerungen sind jedoch passé. Einige wenige Unternehmen halten die Geräte einfach im Programm. Im Gebrauchtmarkt dagegen, der nicht erfasst wird, blüht ein munteres Weiterverkaufen ausrangierter, aber noch funktionsfähiger Teile.
Auf der deutschsprachigen Seite kassettenrecorder.info etwa werden ohne jede popkulturelle Ironie Fragen erläutert wie: „Ist ein spezieller Kassettenrekorder für Kinder nötig?“, oder: „Einzeln oder kombiniertes Gerät?“ Einer der aktuellen Testsieger ist der Sony- CFD-S05-Radiorekorder. Auch die Nischenfirma Auviso bekommt für ihren USB-Kassettenspieler UCR-2200, mit dem sich die analogen Signale der alten Tapes in digitale umwandeln lassen, anerkennende Worte der Bandsalat-Experten. Fazit: Das Teil sei zwar etwas klobig und die Transformation verlange Beschäftigung mit der entsprechenden Software. Doch alles in allem: „Eine lohnende Investition.“ Ab 59,90 Euro wird der UCR-2200 angeboten.
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Unser Angebotsvergleich bei den einschlägigen Web- und stationären Dealern brachte ein buntes Sammelsurium aus moderaten Ghettoblastern, Radiorekordern und quietschbunten Kindergeräten. Sony, Panasonic, Philips und diverse Lizenzhersteller sind weiterhin am Start, viele im Preissegment unter 100 Euro. Lediglich die guten alten „Tapedecks“ als Element der Heimstereoanlage kosten um 250 Euro plus. Auf Tonträgerseite erklärt der Bundesverband Musikindustrie dass die „Musikkassette“ (streng mit k) mit 109 Millionen verkauften Einheiten 1991 ihr bestes Jahr hatte. 2014 habe sich das gute Stück in Deutschland mit nur noch 200.000 Exemplaren „quasi aus dem Markt verabschiedet“. Wie viele Rekorder es noch in Lkws und Pkws gibt, wie viele unverwüstliche ITT-Schaub-Lorenz-Möhren in Gartenlauben oder Werkstätten ihren Dienst verrichten, weiß keine Statistik. Jedenfalls drehen sich die beschichteten Magnetbänder in der Mininische weiterhin ganz munter.
(Ralf Niemczyk, ROLLING STONE 10/2015)