Record Store Day Aftershow: Die Rillen der Romantik

ROLLING STONE und THE VENUE luden ein zur After-Show-Party des ersten deutschen Record Store Crawl. Es gab eine Podiumsdiskussion zum Record Store Day, danach traten die Singer-Songwriter Jesper Munk und Tristan Brusch auf.

Man sieht: Beutel und Tüten, Rücksäcke und einen Hartschalenkoffer. Es sind die Passagiere jenes Busses mit Leuten, die am „Record Store Day Crawl“ teilgenommen, die bei Dodo Beach und Dussmann und anderen Läden in Berlin nach Schallplattten gesucht haben. „Und – was haste gekauft?“ Den Soundtrack zur dritten Staffel von „Twin Peaks“, zum Beispiel. Es war ein warmer, sonniger Tag, und er endet im Venue Berlin mit einer Podiumsdiskussion.

Wolfgang Doebeling, Moderator der Sendung „Roots“ bei Radioeins und Autor beim ROLLING STONE seit 1994, ist der hartleibigste Verfechter des Vinyls. Er war es in den Jahren, als die Musikindustrie die CD einführte und durchsetzen wollte und das auch tat, er war es in den 90er-Jahren, als fast keine Vinylplatten mehr hergestellt wurden, und jetzt, da nahezu alles auf Vinyl erscheint, ist er es noch immer. Es ist kein Triumph, Doebeling hat das alles nicht vergessen.

 

Heute hat er eine Live-Platte von Bobbie Gentry gekauft. Vor 20 Jahren wartete er vergeblich auf das Vinyl von Lucinda Williams’ „Car Wheels On A Gravel Road“, einem Markstein der Americana-Kunst. Die Plattenfirma wollte es nicht anfertigen lassen. Sie wollte das Album nicht unbedingt in Deutschland herausbringen. Tat es dann doch. Aber nicht auf Vinyl. Doebeling hält eine Brandrede. Er hat ausgeharrt, irgendwann gab es auch „Bridges To Babylon“ von den Rolling Stones als Schallplatte. Doebeling sitzt am Ufer und sieht die Streams vorbeiziehen. Es ist eine Passion.

Unter Leitung von Sebastian Zabel, dem Chefredakteur des ROLLING STONE, sprechen auf dem Podium: der Kritiker, der Hersteller, die Händler. Mario Luesse, ein geradezu junger Mann, betreut bei Universal die Vinyl-Abteilung. Er hat früher in einem Plattenladen gearbeitet, er ist ein Liebhaber, er will die Sonder-Editionen haben, er nennt sich salopp „bescheuert“. Luesse gibt die Schallplatten in Auftrag, er disponiert, er entscheidet. Er muss in die Kristallkugel schauen, um zu abzuschätzen, wie viele Exemplare eines Albums, das er nicht kennt, in vier Monaten benötigt werden. Luesse hat Beispiele. Bei der letzten Platte von Feist hat er den Bedarf zu hoch eingeschätzt, weil die vorletzte so beliebt war. Von der wahrhaft exklusiven Platte „Barbie Girl“ von Aqua wurde eine erkleckliche Anzahl verkauft. Von der Bananenplatte von Velvet Underground wurden in den acht Jahren, da er bei Universal arbeitet, vier oder fünf verschiedene Editionen aufgelegt.

Die Talkrunde: Wolfgang Doebeling (ROLLING-STONE-Autor), Anne Haffmanns (Labelmanagement Domino & Mute), Sebastian Zabel (Chefredakteur ROLLING STONE, Jakob Kranz (Key Account Manager Optimal Media GmbH), Mario Luesse (Key Account Manager / Sales Manager Independent Network / Vinyl Consultant Universal Music GmbH), Lutz Stöver (Head of Catalogue Management Sales Warner Music Group Germany)

Die Mindestauflage für Vinyl beträgt bei Universal 1500 Stück. Aus dem Publikum fragt jemand nach Platten von Phish. Es wird nicht reichen.

Anne Haffmanns arbeitet seit 25 Jahren bei Indie-Plattenfirmen. Domino, das Label, für das sie jetzt tätig ist, hat stets Schallplatten veröffentlicht: Record Store Day, sagt Haffmans, ist bei Domino an 365 Tagen – die Disposition, Kontingentierung und Logistik für Veröffentlichungen zum Record Store Day sei so aufwändig, dass ihre Firma sich an diesem Tag nicht eigens engagiert. Wie bei jedem Unternehmen müsse kalkuliert werden. Die Rolling Stones und David Bowie sind nicht im Katlog von Domino. Auch Haffmanns muss bei neuen Platten – Bonnie „Prince“ Billy! – in die Glaskugel schauen.

Wenn Mario Luesse und Anne Haffmanns in die Kristallkugel geschaut haben, bestellen sie Vinyl bei Jakob Kranz, der bei dem Presswerk Optimal die Disposition verantwortet. Kranz erläutert sehr schön die romantische Verzauberung, auch Verklärung des Plattensammelns, die Magie, die man greifen kann. Er spricht von den vollen Auftragsbüchern bei den Presswerken und erklärt, dass nur eine einzige der wenigen Manufakturen die Großkunden bevorzuge und kleinere Aufträge hintanstelle. Allerdings – es geht nicht hopplahopp. Die Kontingente müssen rechtzeitig bestellt werden. Die Schallplatte ist ein Gut, das gefertigt wird.

Das sagt auch Lutz Stöver, bei Warner Music für das Katalog-Management, also für Wiederveröffentlichungen und Box-Sets zuständig: Wenn alles digital ist, dann wird das Haptische zur Besonderheit. Bücher werden gekauft. Schallplatten werden gekauft. Man möchte etwas anfassen. Damit leben. Jakob Kranz sagt, dass man an der Plattensammlung, die in der Wohnung steht, einen Menschen erkennt, nicht an der verborgenen Playlist im Laptop. Mario Luesse beobachtete im Plattenladen einen Vater mit seiner jugendlichen Tochter, die zum ersten Mal ein solches Geschäft betreten hat, um eine Platte von Five Seconds Of Summer zu kaufen. Vielleicht wird sie wiederkommen.

„Rumours“ gibt es nicht auf dem Flohmarkt

Früher war die Schallplatte das Gewöhnliche, heute ist sie der Sonderfall – aber ein Sonderfall, der sich behauptet. Eine unhastige Disruption. Ein Luxus. Es ist schwer, ein altes Exemplar von „Rumours“ von Fleetwood Mac zu bekommen, sagt Luesse. Es gibt 30 Millionen Schallplatten von „Rumours“. Aber man findet die Platte nicht auf dem Flohmarkt.

Welche Wünsche bleiben? Sebastian Zabel wartet auf das Vinyl von „My Beauty“ von Kevin Rowland, Mario Luesse auf „NakedSelf“ von The The, Lutz Stöver auf Brendan Bensons Frühwerk. Anne Haffmanns hat die Platten, die sie hören will, sämtlich auf Vinyl. Wolfgang Doebeling erwartet immer Vinyl, alte Platten und neue. Jakob Kranz hatte nie ein Problem, denn bei Metal-Musik war Vinyl die Darreichungsform geblieben.

Sie sahen das Vinyl unter- und wieder aufgehen, sie sahen Plattenläden schließen und eröffnen, und jetzt ist 2018, und man erkennt noch immer an der Tüte und am Beutel, dass wahrscheinlich eine Schallplatte darin ist.

Arne Willander

Tristan Brusch

Nach einer kurzen Umbaupause, Talkrunden-Stühle runter, Gitarre und Keyboard rauf auf die Bühne, kommt Tristan Brusch. Es ist ein angenehm respektloser Umgang, den der Singer/Songwriter aus Gelsenkirchen mit dem Tasteninstrument zeigt. Er macht den Tastenwusch von links nach rechts, aber nicht so sanft wie Elton John. Er zerlegt den schönen Klang, er singt: „So lange ich nicht tot bin, lebe ich“. Dann: „Nimm mich so, wie ich bin und bring mich zur Psychiaterin.“

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„Das Paradies“ heißt das Debüt-Album des 30-Jährigen, es erscheint am 8. Juni, und daraus stellte er Songs im „Venue“ vor. Lieder wie eine Selbst-Therapiestunde vor Publikum. Klirrend, klar und mit unaufdringlicher Poesie: „Ich bin ein hohes Fis, das durch Deine Ohren fliept.“

So wie einst Jaques Brel hat auch Tristan Brusch wohl keine Angst vor den Tod.

Jesper Munk

Nach Brusch wird die Bühne nicht groß umgebaut. Es bleibt bei einem spartanischen Live-Gefühl: Jesper Munk betritt das Podest, er hat eine sehr große Western-Gitarre dabei. Und wenn er Keyboard spielt, glaubt man, er vergrabe sich in den Tasten.

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Der Münchner ist erst 26, hat aber die Soul-Stimme eines Veteranen. „Favourite Stranger“ ist der neue Longplayer Munks betitelt, der am 27. April erscheinen wird. Im Clip zur neuen Single „Happy When I’m Blue“ flanierte er schon mal im Smoking durch die chinesische Kleinstadt Tianducheng. Das Video verdeutlicht den eklektizistischen Zugang des Gitarristen zu Kulturen und Traditionen, einem Aufbruch ins Neue.

Die neuen Stücke, die Jesper Munk im „Venue“ vorstellt, zeigen eine Entwicklung: Waren die Klänge von „Claim“ noch von Bluesrock wie den Black Keys inspiriert, wendet er sich nun auch dem Soul-Jazz von Zeitgenossen wie King Krule zu. So wie der Brite zelebriert er eine Mischung aus Melancholie und Abgeklärtheit. Die Lockerheit des Millenials.

„You just said you needed time to process“, singt Munk, sein Sound kommt heute ohne die Jazz-Rhythmen und Streicher aus. Er fragt: „I’m Happy When I’m Blue / Does It Come Natural To You?“ Eine Todtraurigkeit, die verzückt.

Christoph Voy
Christoph Voy
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