Rebellisches Grundrauschen

Aus Unmut wird plötzlich Protest: Rolling Stone-Autor Fred Grimm über die neue Gegenmacht auf den Straßen und im Netz

Da war diese 77-jährige Dame – dezentes Make-up, gepflegte Frisur, teurer Mantel -, die eines Tages bei den „Parkschützern“ im Stuttgarter Schlosspark auftauchte und wissen wollte, wie man sich an einen Baum kettet. Oder der 15-Jährige, der bei Anti-Castor-Veteranen im Wendland nachfragte, an welchem Schienenabschnitt man „schottern“ müsse, um den nächsten Atommülltransport aufzuhalten. Und ob er dafür in den Knast kommt. Oder die 28-jährige Grafikdesignerin, die Demos und Unterschriftensammlungen bislang so cool fand wie den „Musikantenstadl“, jetzt aber plötzlich ihre Twitter- und Facebookfreunde mit einer cleveren Kampagne gegen den Abriss einer historischen Häuserzeile in ihrem Viertel aufscheucht.

Ganz Deutschland, so scheint es, ist in diesen Tagen auf Widerstand gebürstet; sammelt hier Unterschriften für ein Bürgerbegehren gegen obszön hohe Kita-Gebühren, blockiert dort den Bau eines Steinkohlekraftwerks, stellt sich „Hand in Hand für ein bedingungsloses Grundeinkommen“ zu Tausenden in den Oktoberregen, bombardiert seine Abgeordneten mit E-Mails gegen Laufzeitverlängerungen für AKWs oder macht mobil gegen die nächste überflüssige Masthuhnfabrik im Massentierzuchtparadies Niedersachsen. Schon jubelt die „Zeit“ über die „neue Apo“ aus der „Mitte der Gesellschaft“, die den Politikern das Heft des Handelns aus den Händen reiße. Professor Dieter Rucht, Veteran der deutschen Protestforschung, staunt, wie „viele bürgerlich Orientierte sich heute Dinge trauen, die sie vor zehn Jahren noch nicht gewagt hätten“. Staatsmännisch besorgt warnt der „Spiegel“ bereits vor der „Dagegen-Republik“: „Die Modernisierung des Landes könnte aufgehalten werden.“

Flashback-Zeit. Die hoch politischen Achtziger, so scheint es, sind zurück. Man geht wieder auf Antikriegs- und Anti-AKW-Demos. Man sieht gelbe Anti-AKW-Plaketten in Bussen oder U-Bahnen und Wasserwerferschlachten in der „Tagesschau“. Man hört Politiker über „wohlstandsverwöhnte“ Demonstranten pöbeln oder Polizeieinsatzleiter (wie bei der Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“) Pfeffersprayeinsätze verteidigen – mit dem Argument, die verletzten „Mütter und Kinder“ hätten „sich ja nicht in den Weg stellen müssen“. Alles schon mal da gewesen? Nicht ganz. Die früheren Kämpfer, etwa gegen den Frankfurter Flughafenausbau, wurden als Fortschrittsfeinde von der schweigenden Mehrheit verachtet und verachteten zurück; eine in sich relativ geschlossene Subkultur, deren Aufstand einem politischen System galt, das bei Wahlen in den 80er-Jahren regelmäßig vier Fünftel aller Stimmberechtigten hinter sich versammelte. Heute demonstrieren vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof auch CDU-Wähler, die sich Demokratie mal ganz anders vorgestellt hatten. Und die Prozentzahlen für die Wahlbeteiligungen nähern sich allmählich dem Durchschnittsgewicht russischer Nachwuchsmodels an: 45, 44, 43 … Die Protestwelle, die gerade durch Deutschland schwappt, gilt längst nicht mehr nur den kleinen und großen lokalen Konflikten, die da jeweils verhandelt werden. Der Aufstand gilt dem politischen System an sich.

„Ich habe kein Vertrauen in die Politik“ – keinen Satz hört man bei der Recherche über die neue deutsche Widerstandskultur so oft wie diesen; egal ob man mit der Ein-Frau-Protestlerin Kirsten Brodde spricht, mit der Anti-Castor-Aktivistin Cécile Lecomte, mit der Familie Rockenbauch, die Woche für Woche unverdrossen gegen „Stuttgart 21“ „demonschtriert“ oder mit den Internet-Kampagneros von campact.de. Gut, die Autonomen, die auf der Suche nach dem Protestgefühl ebenfalls befragt wurden, sagen das auch, aber die sagen das schon seit dreißig Jahren und sind nicht mehr überrascht davon, wie unbeirrbar sich die Regierenden gerade gegen ihre Wähler emanzipieren. „Kein Vertrauen in die Politik“ – das klingt eigentlich noch viel zu harmlos für das, was Meinungsforscher immer deutlicher registrieren. Mehr als die Hälfte der befragten Westdeutschen und dreiviertel der Bürger aus der ehemaligen DDR sind heute mit den „demokratischen Abläufen“ des parlamentarischen Systems „wenig bis gar nicht zufrieden“. Der Kapitalismus wird als Wirtschaftssystem in etwa so hoch geschätzt wie Burkaträgerinnen bei einer Sarrazin-Lesung. Und der Berufsstand des deutschen Politikers rangiert auf der Beliebtheitsskala nur noch knapp vor Serienkillern und rumänischen Hütchenspielern.

„Grundsätzlich haben immer mehr Leute das Gefühl, Politik arbeite intensiver und professioneller“, analysiert „taz“-Autor Peter Unfried. „Aber nur daran, sie zu bescheißen.“ So wie sich, frei nach Kurt Tucholsky, der kleine Moritz mal den Staatsmonopolkapitalismus vorgestellt hat, genau so scheint er zu funktionieren: Mövenpick spendet an die FDP – und freut sich bald darauf über die Befreiung von der Mehrwertsteuer. Die Banker dürfen ihre Milliardenverluste den Steuerzahlern aufdrücken und behalten trotzdem ihre Boni. Die Vorstände der großen deutschen Energiekonzerne sitzen nachts mit der Kanzlerin und dem Wirtschaftsminister zusammen – und am nächsten Morgen ist die Stilllegung der deutschen Schrottreaktoren wieder einkassiert, auf die sich die Stromriesen vor zehn Jahren in einer anderen Nachtsitzung eigentlich bereits verbindlich verpflichtet hatten. Ja, und dass der Stuttgarter Finanzbürgermeister, der das Neubaukonzept so vehement verteidigt, nebenbei bezahlter Berater bei der Firma ist, die den alten Bahnhof abreißen soll, ist eigentlich so platt, dass darauf selbst der kleine Moritz nicht gekommen wäre.

Um das, was der kleine Moritz gegen all das unternehmen kann, geht es der Hamburgerin Kirsten Brodde. Die drahtige 46-Jährige hat in ihren zehn Jahren bei Greenpeace so ziemlich alles gelernt, was man über moderne Kampagnenführung lernen kann: Wie man wirkungsvoll emotionalisiert, wie man die richtigen Bilder für die Medien schafft und dass man aufs Riesenbanner am besten was draufschreibt, bevor man es vor den Pressefotografen entrollt – es sei denn, man ist so schlagfertig wie jener türkische Greenpeace-Aktivist, der einmal angesichts eines versehentlich leer gebliebenen Protestbanners nur sagte: „Meine Damen und Herren, dieser Skandal macht uns sprachlos!“ Nach ihrer Greenpeace-Zeit möchte Kirsten Brodde – buchstäblich – demonstrieren, dass es immer auch auf den Einzelnen und sein konkretes Handeln ankommt, wenn es darum geht, die Welt zu verändern. Weil das aber nur klappt, wenn die Welt davon auch etwas mitbekommt, stellte sich Brodde vor einen Tchiboladen in der Hamburger Fußgängerzone und trug ein rotes Billig-T-Sirt, auf dem „Tchibo-Shirts: Gefertigt für Hungerlöhne“ stand. Tchibo war genervt, die Medien hingerissen und sie fingen an, dem Hamburger Konzern unangenehme Fragen nach den Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern zu stellen. Einige Monate später marschierte Kirsten Brodde in die Zentrale der HSH-Nordbank, um vom Bankvorstand Günter Nonnenmacher das Geld für die Fahrkartenpreiserhöhung zurückzufordern, die sie zahlen müsse, weil die Steuergelder leider für Nonnenmachers absurde Bonuszahlungen drauf gegangen waren. Aufs Geld wartet sie allerdings noch heute. „David gegen Goliath gefällt mir gut“, sagt Kirsten Brodde. Gerade ist ein Buch von ihr erschienen („Protest“, Ludwig Verlag), ein Hand- und Heldenbuch mit vielen Beispielen und praktischen Anleitungen für den inneren Aktivisten in uns allen. „Unser Mandat ist doch nicht erschöpft, weil wir alle vier Jahre ein Kreuzchen machen.“ Es gehe darum, ganz konkret über die Dinge mit zu entscheiden, die einen unmittelbar betreffen. Wo immer Kirsten Brodde in diesen Tagen Vorträge hält, stößt sie auf Menschen, die genau das tun wollen würden, wenn sie nur wüssten, wie. „Die Menschen sind partei-, aber nicht politikverdrossen.“

Die Unlust am parteipolitischen Radau Merkelwesterwellschergabrielsker Prägung hat viel mit dessen Inszenierung zu tun. Politik ist im hyperventilierenden Medienberlin zur einer Art Daily Soap verkommen, voller Machtdarsteller, die den neuesten Umfragedaten hinterher jagen wie TV-Soap-Produzenten der Einschaltquote. Die Kluft zwischen dem, was Politik tatsächlich vermag und dem, was politische Macht vorgibt, bewegen zu können, schien noch nie so groß. Weil außerhalb der großen Lobbyverbände kaum noch jemand das Gefühl hat, die Politik würde sich tatsächlich um seine Belange kümmern, ist ein Vakuum entstanden, das bislang noch kein großer politischer Gegenentwurf zu füllen vermag. Gleichwohl entfaltet das rebellische Grundrauschen, dieses grundsätzliche Misstrauen gegen Medieninszenierungen und Parteipolitik inzwischen seine ganz eigene Gegenmacht.

Anders als in den frühen 80er-Jahren, als die mediale Gegenkultur kommunikationstechnisch auf Flugblätter, launige Buttons, Festnetztelefonketten, notorisch inaktuelle Stadtzeitschriften oder verwackelte Propagandavideos für den engsten Freundeskreis beschränkt blieb, erlaubt das Internet heute ganz andere Formen der Gegeninformation, der Vernetzung und der Mobilisierung: das schnell gedrehte Handyvideo von Polizeiübergriffen bei der letzten Demo auf YouTube, die Enthüllung über die Verflechtungen zwischen Lobbyisten und Legislative auf Foren wie Wikileaks; eingestellt und multipliziert auf der Facebook-Seite, geadelt durch den „Gefällt mir“-Klick.

Zeitgemäße Formen, denn der Protestler von heute hat neben dem Aufstand noch andere Dinge zu tun. „Es ist nicht mehr wie bei der Apo 1968, als das Engagement noch die ganze Identität geprägt hat“, erklärt Christoph Bautz, einer der Köpfe hinter campact.de. Campact ist eine Art digitaler Dienstleister der modernen deutschen Protestkultur. Wenn große Themen wie Gentechnik, Stuttgart 21, Vorratsdatenspeicherung, Atomkraft, Finanzmarktkontrollen oder dergleichen zur Entscheidung anstehen, mobilisiert Campact – meist im Verbund mit erfahrenen NGOs – mit Online-Kampagnen, Infokampagnen und kreativen Aktionen. Als binnen drei Wochen 110.000 Onlineunterschriften gegen die Laufzeitverlängerung für AKWs zusammenkamen, hängte Campact für jede Unterschrift einen Umschlag an eine gigantisch lange Wäscheleine. Das Bild schaffte es bis in die „Tagesschau“. Bautz, 38-jähriger Biologe und Politikwissenschaftler, spricht vom „punktuellen Engagement“, mit dem sich die 300.000 angemeldeten Campact-Aktivisten sowohl niedrigschwellig – mit einem Klick unter eine Onlinepetition – als auch vollaktiv, etwa bei Politflashmobs, für ihr Thema einsetzen können. Revolte to go.

Fassen wir die Wertewelt und wichtigsten Ideen der neuen deutschen Protestkultur doch noch mal kurz zusammen: Eine Gegenöffentlichkeit, für die digitale Netzwerke die bevorzugten Informationsquelle darstellen und Kommunikation einen Wert an sich; kreative Protestformen von der medienwirksamen Straßenperformance bis zur Fake-Ausgabe der „Financial Crimes“; der Traum von freien Arbeitszusammenhängen und vom selbst bestimmten Leben; die Sehnsucht nach kleinen Einheiten, nach dem Landleben in der Stadt; die grundsätzlichen Zweifel an einem System, in dem ein Banker, der Milliarden verzockt, zur Belohnung Millionen aus der Staatskasse erhält, während es in der Schulturnhalle um die Ecke durchs Dach regnet – Paula und David kommen diese Sehnsüchte, Zweifel und Ambitionen ziemlich vertraut vor. Die zwei sitzen in einem Straßencafé in Frankfurt-Bockenheim, direkt gegenüber vom „Exzess“, aus dem gerade ein Mann mit farbenprächtigem Irokesenschnitt zwei blaue Müllsäcke heraus trägt. Heute Abend werden Paula und David in dem autonomen Zentrum einen Vortrag mit dem schönen Titel „Perspektiven autonomer Politik“ (Unrast Verlag) halten. Als Teil des Autorenkollektivs „AK Wantok“ reisten die beiden mehrere Monate durch die Republik und interviewten Antifakämpfer, Internationalisten, Schwulen- und LesbenaktivistInnen, Metropolenkämpfer, Dorfhelden, radikal Subversive, subversive Radikale und viele andere, die sich ebenfalls als Autonome verstehen. Für Paula und David, die seit frühester Jugend in, wie man so sagt, „autonomen Zusammenhänden“ leben, auch eine Art Selbstvergewisserung der eigenen Biografie. In den überraschend entspannten, gelegentlich auch selbstironischen Gesprächen entfaltet sich das Ideal einer Gesellschaft, das gar nicht so weit entfernt zu sein scheint von dem, was etwa dem Ingenieur, dem Rentner oder der Ärztin, die gegen „Stuttgart 21“ kämpfen, wichtig ist. An diesem Abend im „Exzess“ werden Paula und David aus einem Thesenpapier zitieren, einer Art autonomen Manifest, das ursprünglich 1981 für ein Treffen im italienischen Padua formuliert und 1995 in Berlin präzisiert wurde. „Wir kämpfen für uns“, heißt es da. „Andere kämpfen für sich, und gemeinsam sind wir stärker.“ Oder: „Wir kämpfen für ein selbst bestimmtes Leben in allen Bereichen. Uns kommt es zu allererst darauf an, das Selbstbewusstsein der Menschen in Alltag und Politik zu stärken, ihre Sachen selbst in die Hand zu nehmen und nicht an andere zu delegieren.“ Hübsch auch der Satz „Es gilt, dem System überall punktuell Gegenmacht entgegenzusetzen.“ David lächelt. „Die autonomen Einflüsse reichen bis ins bürgerliche Lager hinein. Manchmal denkt man sich schon, also für DEN haben wir manche Aktionsform eigentlich nicht erfunden.“ Aber es liegt was in der Luft, da ist das schon in Ordnung. „Ich finde es generell wichtig, dass überhaupt die Möglichkeit des Widerstandes in Betracht gezogen wird“, sagt Paula, „und nicht dieses, Das finden wir scheiße, aber wir wissen auch nicht, was wir dagegen machen sollen‘ stattfindet, sondern hingegangen wird, okay, dann nehmen wir das jetzt eben selbst mal in die Hand.“

Ein langer Satz, ein schöner Satz. Die 77-jährige Dame aus dem Stuttgarter Schlosspark, der 15-Jährige „Schotterer“ aus dem Wendland oder die 28-jährige Häusererhalterin – sie alle hätten es nicht besser sagen können.

Der Autor Fred Grimm lebt in Hamburg. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Wir wollen eine andere Welt – Jugend in Deutschland 1900-2010“ Verlag Haffmans & Tolkemitt (bei Zweitausendeins).

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