Ray Charles: „Er war der Architekt des Rock’n’Roll“
Berühmte Fans und Weggefährten erinnern sich an Ray Charles, einen der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts, der am 10. Juni im Alter von 73 Jahren in Beverly Hills starb.
Jerry Wexler – Produzent, Atlantic Records
Als ich Ray Charles das erste Mal begegnete, bereitete er gerade eine Session mit Ahmet Ertegun im Atlantic Studio vor. Es war eine Probe: Ahmet brachte Ray „Mess Around“ bei, einen Song, den er, Ahmet, geschrieben hatte. Aber erstaunlicherweise sang Ray auch Countrysongs wie etwa „Missouri Waltz“ – und legte anschließend das ausgefuchsteste Bebop-Piano hin, das man sich vorstellen kann.
Seine definitive Session für Atlantic war 1954 in Atlanta, die erste mit seiner eigenen Band. Davor hatten wir auf die übliche Studioart aufgenommen: Er kam hin, wir sprachen die Songs durch, ein Arrangeur war dabei – meistens Jesse Stone -, und dann nahmen wir mit Begleitmusikern auf. Das waren keine schlechten Platten – „Sinner’s Prayer“ zum Beispiel. Aber diesmal war’s, als würde er neu geboren, und zwar schon gereift und vollendet, wie Minerva aus dem Kopf des Jupiter. Er bestellte mich und Ahmet nach Atlanta. Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartete. Er wohnte im Peacock Hotel. Gegenüber lag der Royal Peacock Nightclub. Ray rannte die Hoteltreppe runter, über die Straße, dann wieder eine Etage hoch, wenn Ray die Örtlichkeiten kannte, kam man ihm kaum hinterher -, und da wartete diese Sieben-Mann-Band an ihren Instrumenten: vier Bläser, drei Rhythmusleute, keine Gitarre. Mit „I’ve Got A Woman“ legten sie los. Mit dieser Band hatte er endlich seine Stimme, seinen Stil gefunden. Eine Ironie, dass Ray Charles, fraglos ein Vorreiter des von Gitarren geprägten Rock’n’Roll, diesen Sound ohne Gitarre schuf. Aber so hatten die Bläser den Raum, den sie brauchten. Das war die Session bei WGST, dem Campusradio an der Georgia Tech. Ray spielte „I’ve Got A Woman“, „Come Back Baby“, „Greenbacks“ und noch einen Song. Sie hatten so einen älteren Tontechniker, der völlig überfordert war. Es dauerte drei Stunden, den Sound im Studio richtig hinzukriegen. Und zu jeder vollen Stunde mussten wir abbrechen, damit sie Nachrichten senden konnten – der Regieraum war gleichzeitig der Newsroom. Aber aus dieser Session haben wir diese Songs – die definitiven Anfange des Ray Charles.
Ich sprach ihn das letzte Mal, kurz bevor er krank wurde. Es war ein wundervolles Gespräch. Voller Freude. Ich hatte ihn nie groß mit Anrufen belästigt, wir sprachen uns nur alle paar Jahre. Aber es machte mich glücklich, als er diesmal sagte: „Pardner“ – so nannte er mich immer – „die Jahre mit dir und Ahmet, das waren meine schönsten.“ Wobei, wenn es immer heißt: „Jerry und Ahmet haben Ray Charles produziert“, dann muss man das „produzieren“ wirklich in Anführungszeichen setzen. Wir waren letztlich nur Zeugen eines Ereignisses. Wir lernten von Ray Charles. Mein lieber Freund (der Autor) Stanley Booth bemerkte mal: „Als Ahmet und Jerry Ray Charles produzierten, da gingen sie nur ins Studio und schalteten das Licht an. Ray brauchte sie nicht“
„What’d I Say“ war das erste Stück, das ich von Ray Charles hörte. Danach das Album mit David „Fathead“ Newman („Genius + Soul =Jazz“). Und dann „Hit The Road Jack“. Der Mann hatte eine wahnsinnige Spannbreite. Er passte in keine Schublade. Er hatte seine eigene. Ich fand das sagenhaft, wie er ganz mühelos zwischen diesen ganzen Sachen hin- und hersausen konnte. Für ihn war’s einfach alles Musik. Er war der erste wahre Crossover-Musiker. Ich weiß noch, wie ein paar meiner sogenannten hipperen Freunde abwinkten, als das „Jazz“-Album rauskam. Die sagten: „Mann, jetzt verkauft er sich.“ Aber Ray war Rock’n’Roll. Und Rhythm & Blues. Und Jazz. Und Country. Die Stones waren ja in erster Linie eine Gitarrenband, darum beeinflusste Ray uns eher indirekt. Mick – und jeder, der Blues oder Rhythm & Blues sang, lernte von ihm.
Wenn man, wie wir, viel Musik von Ray hörte, dann färbte das ab. Charlie liebte die Ray Charles Band, vor allem die Schlagzeuger. Und Ian Stewart saß immer am Klavier und dudelte mit Rays Songs und Riffs rum. Während der ganzen Aufnahmesession – sobald wir eine Pause machten, versuchte Stu sich wieder eines dieser Licks draufzuschaffen. Es gehört übrigens zu meinen stolzen Klaviermomenten, dass ich eins von Rays wunderbaren Bluesucks gelernt hatte und es dann Ian Stewart beibringen konnte. Das war das einzige Mal, dass ich ihm am Klavier was zeigen konnte.
Ich bin Ray ein oder zweimal begegnet. „How ya doing?“ – „Nice to meet ya.“ Wir kannten uns zwar, aber es fehlte einfach die Zeit, sich mal wirklich zu treffen. Aber ich kannte viele seiner Musiker. Live sah ich ihn in den 60ern zum ersten Mal, in den Staaten, als wir das erste Mal drüben waren. Ich weiß nicht mehr wo, aber es war kein großer Rahmen – einfach irgendein Club mit einem Schild: „Heute: Ray Charles“. Fast nur Schwarze im Publikum. Es war wohl irgendwo im Süden, zum Pinkeln musste ich nämlich auf die andere Toilette, die für Weiße.
Und als die Stones dann in den 70ern auf Tour waren, spielte er oft eine Woche vor uns oder nach uns in derselben Stadt. Rays Band war echt wild – dreißig mal schwarzes Dynamit. Man hörte diese Geschichten: dass sie in einer Bar waren und die Polizei kam. Und am nächsten Tag auf dem Flughafen traf man dann irgendeinen armen Kerl mit seinem Schlagzeug oder seiner Posaune, der sich verspätet und den Flieger verpasst hatte. Ray führte ein striktes Regime.
Brian Wilson
Ray Charles‘ Musik brachte mich durch die High School – damals hörte ich ihn mehr als alles andere. Ich liebte ihn so sehr, dass wir 1963, als es mit den Beach Boys gerade losging, immer eine Liveversion von „What’d I Say“ spielten. Weil wir die Leute auch auf Ray Charles bringen wollten. Den Song zu singen und dabei an Ray zu denken, war immer ein thrill für mich – man kann sich also vorstellen, wie ich mich fühlte, als Ray 1968 unseren Song „Sail On Sailor“ aufnahm. Er war brillant, und er sang ihn besser als wir selbst Was mir aber am meisten in Erinnerung bleibt, ist sein sensibler Gesang bei Stücken wie „I Can’t Stop Loving You“. Du kannst dir sicher sein, Ray die ganze Welt wird dich immer lieben.
Robbie Robertson
Ich ging als Kind mal in die Massey Hall, das ist sozusagen die Carnegie Hall von Toronto. Ich war vielleicht 14 und hatte gerade den Rock’n’Roll entdeckt. Ich ging wegen dieser R&B-Show hin, bei der Ray Charles und seine Band spielten. Er wurde angekündigt – damals noch als „Blind Ray Charles“ -, und davor hatten alle getanzt und es gab viel so Showbusinesskram auf der Bühne, aber als Ray kam, wurde es richtig ernst und dunkel und schön. Er saß in diesem blauen Scheinwerferlicht, und ich war plötzlich ganz woanders. Er sang, und ich dachte: „Das ist der beste Gesang, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe.“ Und dann sang er den nächsten Song, und der war noch besser. Es war einfach zu cool. Er spielte den Scheiß einfach, ohne jeden Firlefanz und besser als jeder andere auf der Welt. Ich saß da und machte diese Verwandlung durch, aber anderswo im Publikum schrie jemand blöd herum und störte. Ray Charles sagt: „Wenn ich nicht blind wäre, würde ich runterkommen und dir in den Arsch treten“, und dann fängt er „Leave Your Woman Alone“ an und stürzt sich mit einer derartigen Wut in den Song – ab da liebte ich Ray Charles.
Vor Jahren wohnte ich mal im Forest Hotel in New York. Ein Freund und ich trafen dieses Mädchen, das war mächtig ausgekocht und hatte ein bisschen Gras, und einmal sagte sie: „Jetzt muss ich in ein Studio, wo Ray Charles aufnimmt.“ Was wir nicht wussten: Sie besorgte ihm Drogen und war manchmal auch seine Geliebte, glaube ich. Ich kam mit. Ich weiß nicht, an welchem Album er damals arbeitete. Sie und Ray gingen raus und diskutierten über irgendwas. Sie waren eine ganze Weile weg, der Produzent wurde ungeduldig. Ray kam zurück, setzte sich ans Klavier und schien noch in irgendeinen Tagtraum versunken. Der Produzent ging rüber und sagte etwas zu ihm, da schlug Ray ihm einfach mit der Faust ins Gesicht. Das Mädchen sah mich an und sagte: „Wir gehen wohl besser.“ Ich dachte: Ich weiß ja nicht, worum’s ging, aber ich bin sicher, Ray hatte recht.
Billy Joel
Mitte der 80er rief mich Quincy Jones an und sagte: „Ray Charles würde sehr gern einen Song mit dir machen.“ Damals hatte ich eine sehr ergiebige Phase und war viel arroganter und dachte wirklich, ich könnte schreiben. Als ich mich an den Song machte, fragte ich mich: Was haben Ray Charles und ich gemeinsam? Er ist schwarz, er ist blind, er kommt aus Florida, er hat Soul. Ich bin dieser kleine weiße schmuck aus Long Island, der Popsongs schreibt. Also setzte ich mich in Burt Bacharachs Restaurant hier in New York und schrieb „Baby Grand“. Ray war begeistert, und wir nahmen den Song zusammen auf.
Als wir uns zu der Session trafen, das war, als käme das Washington-Denkmal in den Raum gelaufen. Er sah exakt so aus, wie man sich Ray Charles vorstellt: die Brille, die Haare, das Lächeln. Und er war echt hart drauf. Wenn der Drummer mal den Beat verpatzte, dann konnte Ray richtig böse werden. Da kriegte man Angst. In Gegenwart von Ray Charles machte man besser keine Fehler – man spürte förmlich den bohrenden Blick hinter den Brillengläsern. Mich behandelte er sehr generös. Ich war schüchtern, unsicher, ich sang mit meinem Idol. Aber wir trafen uns auf unserem gemeinsamen Feld als Klavierspieler. Ich spielte die Basics, und er legte seine Riffs auf meine Akkorde. Ich würde ja niemals wagen, mit Rays Riffs zu konkurrieren!
Es war Steve Winwood, der mich auf Ray brachte. Als der bei der Spencer Davis Group war, spielte ich in kleinen Garagenbands und fand seine Stimme sensationell – dieser dünne englische Knabe, der sang wie Ray Charles. Der Sänger von Procol Harum klang auch wie Ray. Genauso Rod Stewart, als er bei der Jeff Beck Group sang. Selbst Robert Plant wollte klingen wie Ray Charles. Es gab so viele, die ihn kopierten – und ich war der letzte, der das abstreitet. Ich versuchte auch zu singen wie Ray Charles.
Ich sah ihn das letzte Mal, als er bei meiner Aufnahme in die Rock And Roll Hall Of Fame die Laudatio hielt. Ich erstarrte vor Ehrfurcht. Das war, als käme Gott herabgestiegen und würde sagen: „Okay, du bist dabei.“
Es mag ketzerisch klingen, aber in meinen Augen war Ray Charles bedeutender als Elvis. Ich weiß nicht, ob man ihn als den Architekten des Rock’n’Roll bezeichnen kann, aber er hat auf jeden Fall eine Menge Dinge als Erster gemacht. Wer sonst, bitte, hat so viele Stile zusammengemixt, und es funktionierte? Er war ein wahres amerikanisches Original.
James Taylor
Mit 17 war ich in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt in Boston, im McLean Hospital. Das ist natürlich eine ganz andere Geschichte – aber Ray Charles wurde jedes halbe Jahr auch für ein paar Tage eingeliefert. Wahrscheinlich immer nach irgendeiner Drogenrazzia. Wie auch immer plötzlich saß mein Idol auch in diesem Irrenhaus, im selben Gebäude wie ich – North Belknap. Als ich eines Abends zum Essen ging, aß er dasselbe zähe Hühnchen wie die anderen Insassen auch. Ich dachte, ich hab Halluzinationen. Er war sichtlich unglücklich, da zu sein. Es gab ein Klavier, und er spielte ein bisschen. Es war wie ein Besuch.
Ray Charles hat zu meinen Lebzeiten den größten einzelnen Beitrag zur amerikanischen Musik geleistet. Es gibt Dutzende Aufnahmen von ihm, wo er den betreffenden Song einfach definitiv interpretiert: „Baby, It’s Cold Outside“, „Drown In My Own Tears“, „Hit The Road Jack“, „What’d I Say“, „I’ve Got A Woman“. Er machte nie etwas verkehrt, und seine Versionen waren immer die definitiven. Er war ein Genie.