Rattenrennen und Eigenheim
Das Leben könnte so schön sein, wenn man nicht genauer hinschauen würde. Bei der Band Kettcar lief seit der Gründung 2001 alles prima: zwei tolle AI-Ben veröffentlicht, genügend Exemplare verkauft, nebenbei die Plattenfirma Grand Hotel van Cleef mitgegründet, im Großen und Ganzen nichts falsch gemacht. Und dann tritt man in Hamburg oder sonstwo in Deutschland vor die Tür und muss feststellen: Wir sind nicht einverstanden! Mit den „neoliberalen Zumutungen“, wie Marcus Wiebusch es nennt. Mit dem Sicherheitswahn, der seit 9/11 auch hier herrscht, und den Fingerabdrücken im Ausweis. Mit der Arbeitslosigkeit und der permanenten Angst davor.
„Realitätsnah“ sollte das dritte Album werden, das war das Wichtigste. Und Kettcar wollten „ein bisschen mehr riskieren“ als auf „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“. Wiebusch und seine Kollegen sind immer selbstkritisch: „Wir fanden, dass die letzte Platte manchmal etwas zu steril oder aufgeräumt zur Sache ging, und bei den Texten und der Grundstimmung wollten wir jetzt mehr Krach, an den richtigen Stellen.“‚Alles wurde zusammen aufgenommen, nicht nacheinander.
und der Gesang etwas leiser gefahren. „Wir wollten uns bewusst verändern.“
Verkaufszahlen sind nicht das Entscheidende, auch wenn Wiebusch freimütig zugibt, dass die beiden erfolgreichsten Grand-Hotel-Bands, Kettcar und Tomte, unter gehörigem Druck stehen. Vor allem geht es um die Musik die nun aber auch für den Lebensunterhalt sorgt: „Das Grand Hotel sehe ich nur als Vehikel, um unsere Kunst zu transportieren. In dunklen Momenten habe ich dann natürlich oft das Gefühl: Wenn mir jetzt nichts einfällt, muss ich im Hafen Bananenkisten schleppen.“ Er will sich nicht beschweren, es ist das Leben, das er wollte. Aber Wiebusch ist jetzt zweifacher Vater, da nehmen die Zukunftsängste zu. Es gibt ein paar kleine Motive auf „Sylt“, die auf den Zuwachs hindeuten, aber mit Familiengeschichten nervt Wiebusch uns zum Glück nicht. „Wenn du so eine Platte textest, prüfst du ja ständig: Was sind deine Themen, was beschäftigt dich? Privat gibt es bei mir nichts, womit ich mich mehr auseinandersetze, als mit Familie. Aber es gibt nichts Langweiligeres, als über Vaterschaft zu singen.“
Die Kinder, um die es auf „Sylt“ wirklich geht, sind eher solche, die längst Falten haben und Uni-Abschlüsse. Der Sänger nimmt sich da nicht aus: „Es fühlt sich auch gut und richtig an, wenn ich jeden Abend vor Tausend Leuten das Leben eines Jugendlichen führe. Diese Ambivalenz in dem Song ,Graceland‘ will ich immer mitgedacht wissen.“ Er singt: „Distinktion und Einbauküche/ Dort hinten verteilen sie Wachsmalstifte/ Ich glaube, die Styler, die anders sein wollen, wollen malen/ Nach Zahlen.“ Und wer ist jetzt schuld am ewigen Infantilismus? Wiebusch mag keine Parolen und Pauschalantworten mehr, versucht es aber mit „Globalisierung und Pop. Nimm irgendeinen Medienberuf und sieh dir an, wie sich die 40-Jährigen verhalten müssen und aufständig neue Technologien oder Arbeitsverhältnisse reagieren müssen. Man muss jung und flexibel sein. Und Pop ist auch ein Faktor: Menschen, die komplett mit Pop sozialisiert worden sind, wollen einfach nicht älter werden. Ist ja auch total langweilig.“ Am besten trifft er diese Zerrissenheit zwischen Anders-sein-Wollen und Anpassen-Müssen beim Song „Am Tisch“, in dem sich zwei Bekannte fassungslos gegenüber sitzen. Der eine hat das Leben scheinbar durchschaut und findet die Themen „Kochen und Reisen“ belanglos, der andere hat sich entschieden „fürs Rattenrennen und Eigenheim leisten“ und ist auch nicht glücklich. Wiebusch gibt den zynischen Lebenskünstler, Niels Frevert singt den abgeklärten Spießer so gekränkt, dass man für keinen von beiden Partei ergreifen mag.
Es gibt auf „Sylt“ kein Rezept für ein gutes Leben, es gibt nur Bestandsaufnahmen, wie es nicht unbedingt sein sollte. Und eine Aufforderung: bloß nicht von zu viel Angst lähmen lassen! „Weil es manchmal egal ist/ Ob man jetzt wirklich/Wirklich mutig ist/ Oder nur tut, als ob.“