Rare Trax Vol. 37
Die Songs seien „full of wrong notes and wrong chords, but crammed with right Evetything Elses“, schrieb Matt Haynes aus Bristol 1988 auf ein LP-Cover seiner kleinen Plattenfirma Sarah Records – besser und knopfaugiger kann man die Musik nicht auf den Punkt bringen, die unabhängige britische Liebhaber-Labels wie Sarah, Creation, Postcard, Zoo, The Subway Organisation, Cherry Red, 53rd & 3rd oder Glass in den achtziger Jahren herausbrachten. Namen, die vielen Leuten gar nichts sagen – und anderen ein Lächeln ins Gesicht zaubern, bis die Wangen erdbeerrot sind.
Natürlich war das der lange Atem des Punk, die selbstgefalteten Singles-Cover, die Fanzines, das Spontane und kunsthandwerklich Amateurhafte, die Freundschaften und Netzwerke. Wie vielen anderen in der Pop-Topografie der frühen Achtziger war den britischen Indie-Pop-Bands, die wir hier präsentieren, der Londoner Punkrock eben zu rockig, zu chauvinistisch, poserhaft und unsensibel. Auch Eskapismus war eine mögliche Antwort auf die Restriktionen und die Angst der Thatcher-Ära – die Flucht ging (wie in der nahestehenden Mod-Kultur) zurück zum Jangle-Pop und der Psychedelia der Sechziger, zum Seaside-Pavillion-Entertainment. In eine Fantasie-Welt, in der Jungs wie Mädchen singen, Mädchen sich wie Jungs frisieren, in der Geschlechterunterschiede verwischt werden und es folglich kaum um Sex geht. Die Bands trugen Anorak, nicht Leder.
Und obwohl wir gelernt haben, solche Musik typisch britisch zu finden – die musikalischen Haupteinflüsse kamen aus Amerika. The Byrds, Velvet Underground, Ramones (die trotz Punkrock durchgingen, weil sie so niedlich waren).
Vieles auf dieser „Rare Trax“ erinnert an die Smiths, die wenn man so will – als einzige Band dieser diffusen Bewegung wirklich das Zeug zum breiten Durchbruch hatten. Andere (Primal Scream, My Bloody Valentine, House Of Love, die aus den Marine Girls entstandenen Everything But The Girl) schafften das erst nach einer Image-Generalüberholung, mit neuen Drogen und im Wellentrieb des Acid-House-Booms zum Ende des Jahrzehnts. Man braucht wenig Fantasie, um in den Popsongs dieser „Rare Trax“ die Vorboten des Neunziger-Britpop zu sehen. Creation-Chef Alan Mc-Gee wurde verspätet zum Millionär, und plötzlich faltete das Sony-Presswerk seine Cover.
Der Name für das unbekannte Wesen kam wie so oft vom „NME“. Dem Heft lag, begleitend zu einer 1986er Konzertreihe, der Kassetten-Sampler „C-86“ bei – die Genrebezeichnung C-86 hören viele Bands ungern (und Spezialisten werden merken, dass diese „Rare Trax“ den Fokus ohnehin etwas weiter fasst). Der nachträgliche Vorteil einer solchen Nerd-Szene ist, dass sie schnell das Internet erschlossen hat und daher auch Gruppen, die nicht mehr als ein paar Vinyl-Singles veröffentlicht haben, ihre Online-Fanseiten haben. Die oft in japanischer Sprache sind wie so oft galten die Propheten im eigenen Land weniger als in den USA, Japan und auch Deutschland. Die konkurrenzlos beste Datenbank betreut der Bremer Enthusiast Peter Hahndorf: www.twee.net. Dass der C-86-Sound auch heute noch weltweit von jungen Bands gespielt wird und einige der Protagonisten weiterhin aktiv sind (siehe die Internet-Adressen auf der Cover-Rückseite), versteht sich fast von selbst Zum Beispiel wird es dieses Frühjahr ein neues Album der TELEVISION PERSONALITIES geben, die die „Rare Trax“ mit einem Stück eröffnen, das zwar von 1978 stammt, aber eine Art Gründungs-Hymne des britischen Eighties-Indie-Pop ist: In „Part Time Punks“ spotten sie in linkisch schiefem Gesang und zum Beat eines arg wackligen Drummers über die Wannabe-Punks in der Londoner Kings Road – das Knistern ist echt, die Originalbänder dieser Schuhkarton-Aufnahme existieren nicht mehr. THE PASTELS dagegen immer noch, die 1982 in Glasgow gegründete Band des wundervollen Murmlers Stephen McRobbie. Seine dröhnende, weniger liebliche Musik war Genre-bildend, die Arbeit als Initiator verschiedener Klein-Labels hat ihn zu einer Art Vaterfigur des britischen Indie-Pop gemacht.
McRobbie brachte auch die zwei Singles und die eine LP des Duos THE VASELINES heraus. Perlen, die der prominente Fan Kurt Cobain vor dem Vergessenwerden rettete, als er bei „MTV Unplugged“ den Vaselines-Song Jesus Wants Me For A Sunbeam“ sang (so lautet der Titel – auf der Nirvana-Hülle steht er falsch). Wie viel Wert hier auf Freundschaften und Respektsbekundungen gelegt wurde, sieht man auch an TALULAH GOSH: Einer ihrer ersten Songs hieß „The Day She Lost Her Pasteis Badge“. Als Inbegriff des süßzuckrigen Jangle-Pop galt die Oxforder Band wegen ihrer Sängerin Amelia Fletcher, die auch in einigen Nachfolge-Bands das rehscheue Poster-Girl schüchterner Gitarren-Fans war. THE WEDDING PRESENT aus Leeds wie auch ihr Sänger David Gedge (später Cinerama) sind ebenfalls nie ganz verschwunden und werden im Frühjahr 2005 ein Comeback feiern. Das alte, furiose „This Boy Can Wait“ war übrigens als Schluss-Track auf der erwähnten „C-86“-Compilation des „NME“ vertreten.
Wesentlich mehr Zug zum Erfolg hatten THE WOODEN-TOPS aus Northampton, die in ihren sagenhaften Konzerten die schnellen Stücke noch schneller spielten – so lange, bis Sänger Rolo McGinty keine Saiten mehr auf der Gitarre hatte.
Ein kleiner Sprung: „Yeah! „Veah! eah! – the swingin‘ sixties are back in style“, schrieb Martin Newell aus Colchester auf das erste Album mit Homerecordings seiner CLEANERS FROM VENUS, auf dem sie John Lennon und Syd Barrett je einen Song widmeten. Bekannt wurde die Band durch das Buch „Lost In Music“ von Mitglied Giles Smidi, der hier allerdings noch nicht dabei ist Teilweise in Richtung Comedy gingen THE JAZZ BUTCHER aus Oxford, die ihr bestes Publikum überraschenderweise in Deutschland hatten und einmal sogar in „Formel Eins“ auftraten.
THE FIELD MICE ausSurrey waren die beste der vielen fragilen Bands des legendären Sarah-Labels, in dessen Katalog es Unglaubliches zu entdecken gibt – falls man die raren Platten findet Flüchtigkeit war ein durchaus erwünschtes Prinzip, auch THE FLATMATES aus Bristol gab es nur drei Jahre.
Die amüsanteste Band dieses Dunstkreises sind HALF MAN HALF BISCUIT aus Liverpooldie notorische Anekdote besagt, sie hätten einen Fernsehauftritt abgeblasen, weil sie das Spiel ihres Heimatvereins Tranmere Rovers nicht verpassen wollten. Am Ende hören wir die Frühversuche von Everything But The Girl-Sängerin Tracey Thorn: „Fly ing Over Russia“ von dem Mädchen-Trio MARINE GIRLS, dessen erste Kassetten-Aufnahmen Dan Treacy von den TV Personalities herausbrachte.