Rare Trax
Country, Blues und Folk und die damit verbundenen Mythen inspirierten nicht nur Generationen nordameri anischer Musiker - auch auf dieser Seite des Atlantiks gewinnt man der "Americana" immer neue Aspekte ab
Wir hätten die vorliegende CD beinahe „Bringing It All Back Home“ genannt, wenn uns da nicht schon jemand zuvor gekommen wäre. Gut, es wäre auch nicht ganz korrekt gewesen, denn die genuin nordamerikanischen Musikformen wie Blues, Folk, Bluegrass, Zydeco und Country, die man heute unter dem Genre „Americana“ zusammenfasst, entstanden ja mehr oder weniger erst durch die Reaktion europäischer mit afrikanischen Musiken. Eine echte Multi-Kulti-Weltmusik ist da in der Neuen Welt entstanden, auch wenn Musikhörer diesen Terminus heute vor allem verwenden, um genau die Musik zu bezeichnen, die nicht „amerikanisch“ ist.
Die kulturellen Verbindungslinien und Brüche, zwischen nordamerikanischer und deutscher Musikkultur kann man etwa auf einigen hervorragenden Platten der Münchner Band FSK nachhören („Son Of Kraut“ sei hier besonders empfohlen).
Den Künstlern auf den „Rare Trax“ dieses Monats, die allesamt europäischer Herkunft sind, geht es größtenteils nicht um das Aufzeigen von Brüchen (auch wenn diese trotzdem immer hörbar sind), sie nutzen die amerikanische Songtradition eher als Blaupause und Inspiration für ihre eigenen Lieder und kreieren so eine europäische Version der Americana. „Discover America“ (auch die Idee zu diesem Titel hatte natürlich vor uns schon jemand anders) zeigt die Kunst des empathischen Blicks.
22 PISTEP RKKO waren von Beginn an eine Band der Brüche und schrägen Verweise. „Texaco“ nahmen die Finnen aus dem Städtchen Utajarvi, die unsere „Rare Trax“ in diesem Monat eröffnen, bereits 1992 für ihr Album „Big Lupu“ auf. Und was zunächst wie eine lupenreine Roots-Nummer mit Banjo und Blues-Metaphorik klingt, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einer Art Euro-Disco mit sphärischen Synthesizern und Sirenengeheul. Kommt die Americana-Polizei aus Finnland?
Man könnte meinen, der nun folgende Songwriter müsste eigentlich den Blues spielen, schließlich kommt er aus einer Gegend, die früher mal als „Armenhaus Deutschlands“ bezeichnet wurde. Aus dem Emsland nämlich, dort war außer ein bisschen Torf eigentlich nichts zu holen. Und Old Man Treadwell, das Pseudonym, das Stefan Prange aus Haselünne sich bei seinen Soloauftritten gibt, klingt auch irgendwie nach jemandem, den Alan Lomax auf einem der Baumwollfelder des amerikanischen Südens aufgelesen hat. Bekannt wurde Prange allerdings vor allem als Sänger von GREEN APPLE SEA. die 2000 ihr erstes Album „All Over The Place“ veröffentlichte, mit Smog, Cat Power sowie der Willard Grant Conspiracy tourte und in diesem Jahr den exzellenten Nachfolger „Forever Sounds Great“ veröffentlichte.
„Die britischen Scud Mountain Boys, elegisch, intensiv, pessimistisch. Deep shades of blue“, so wurden DAKOTA SUITE aus Leeds einst in dieser Zeitschrift anlässlich einer ihrer ersten EPs vorgestellt. Das Glitterhouse-Label kompilierte diese essenziellen Frühwerke später auf „Alone With Everybody“. Schon der Bandname spiegelt den Ort wider, an dem die trostlosen Songskizzen des bekennenden FC-Everton-Fans (was kann trostloser sein) spielen: einerseits ist es ein Ort in den USA, Rare Trax
andererseits die letzte Adresse des Leaders der größten britischen Band aller Zeiten: John Lennon.
„Last night I dreamt of Mississippi/ I’d never thought I’d catch you on that side“, die Zeilen wiederholt NICOLAI DUNGER fast Mantra-artigim Eröffnungsstück seines „amerikanischen Albums“ „Tranqil Isolation“. Für die Aufnahmen hatte auch er die Seite (des Atlantiks) gewechselt und sich im Februar 2002 in einem Haus in Shelbyville/ Kentucky einquartiert. Dort lebt der Produzent und Musiker Paul Oldham, der ihm zusammen mit Will „Bonnie ,Prince‘ Billy“ Oldham beim Einspielen dieses wundervollen Albums half. Wenig später machte Dunger ein Album mit den – ebenfalls US-amerikanischen – Schönklingern Mercury Rev. Seine letzten beiden Alben sang er in schwedischer Sprache, vor allem „Rost Och Herren“ ist uneingeschränkt zu empfehlen.
Das nächste Stücke entstand an einem der Orte des amerikanischen (Pop-)Mythos schlechthin. Im Keller eines hässlichen rosafarbenen Hauses in den Catskill Mountains-besser bekannt als „Big Pink“. Dort nahmen Bob Dylan und seine Begleitband (später bekannt als The Band) diesen Song erstmals auf. Na, und ist es nicht ein genialer Zug der Geschichte, dass dieses dadaistische Stück seinen Weg nach Zürich fand, den Ort also, an dem Hugo Ball, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Hans Arp 1916 die Dada-Bewegung ins Leben riefen? Dort lebt nämlich der Country- und Blues-Enthusiast Thomas Erb alias HANK SHIZZOE, der das alte „Basement Tapes“‚Kunststück auf seinem „Headlines“-Album noch einmal aufführte.
Beschwingte, teilweise vom schwedischen Volkslied inspirierte Gesangsmelodien, eine an Neil Young erinnernde Stimme, rootsige Instrumentierung-unter den skandinavischen Musikern, die sich bei amerikanischen Traditionen bedienten, war Thomas Hansen alias ST. THOMAS wohl einer der originellsten und talentiertesten. Und wenn man ihn auf der Bühne sah, dachte manoft, dass erdas genauso sieht. Dort versuchte er nämlich, seine Unsicherheiten und psychischen Probleme hinter Größenwahn zu verstecken, brach Konzerte ab und beschimpfte das Publikum. Doch wenn er eines seiner Lieder anstimmte, konnte man ihm nicht mehr böse sein. Anfang September starb Hansen mit nur 31 Jahren in Oslo. RIP.
Als die Hamburger Gruppe FINK ihr 2000 erschienenes viertes Album aufnahm, hatte sie sich bereits vom „Country mit deutschen Texten“ wegbewegt. Calexico, deren Trompeter Martin Wenk Fink auch live öfter begleitete, und Bob Dylans „True Out Of Mind“ inspirierten den dichten Sound ihrer wohl schönsten Songsammlung, der sie schließlich schlicht den Titel „I’m“ gaben. Über das Mundharmonikasolo vom „I’m“-Track „Immerhinda“ staunt selbst Sänger (und Mundharmonikaspieler) Nils Konpruch heute noch.
Der schwedische Songwriter CHRISTIAN KJELLVANDER verbrachte Teile seiner Jugend in Seattle, und das Haus, in dem er wohnte, war auf dem Rückcover einer Pearl Jam-Fanclub-Single abgebildet. Doch man kann sich mit ihm ebenso gut über die „Anthology Of American Folk Music“ unterhalten wie über die Hauptstadt des Grunge. Auf seinem Debüt „Songs From A Two-Room Chapd“ zitierte er „Wayfaring Stranger“. Auch sein zweites Album, „Introducing The Pat“, schwelgt so in Americana-Seligkeit, dass man fast glauben könnte, „Portugal“ (so ein Songtitel) sei ein US-Bundesstaat.
Ein ebenfalls aus Schweden stammender Songwriter, der häufig in einem Atemzug mit Christian Kjellvander genannt wird, ist Kristopher Aström. Der half seiner jungen Kollegin BRITTA PERSSON aus Uppsala bei den Aufnahmen zu ihrem Debüt „Top Quality Bones and A Little Terrorist“, einem von US-Indie-Chanteusen wie Cat Power und Regina Spektor inspirierten Folk-Album.
In der Aneignung amerikanischer Traditionen ist hierzulande wohl kaum jemand so begabt wie Danny Dziuk – egal ob einst als Songwriter von Stoppok oder mit seiner eigenen Band DZIUKS KÜCHE. Auf „Gebet & Revolver“ von 2005 adaptiert er etwa gekonnt John Prine Jesse Fuller und Kinky Friedman. Die Inspiration für „Wer ist es, der da redet“ war Howlin‘ Wolfs „Who’s That Talking“.
Einst zog Marc Pilley aus dem schottischen Küstenort Dunbar in alter Hobo-Tradition mit seiner Gitarre durch Großbritannien und übers europäische Festland. Da ergab sich der Name seiner Band wie von selbst: HOBOTALK. Mit dem Neo-Folk ihres Debüts „Beauty In Madnesa“ sprangen sie 2002-wiederum in alter Hobo-Tradition – auf den Zug auf, nämlich auf den des „Quiet Is The New Loud“. Der Nachfolger „Notes On Sunset“, dessen „Letter From A Friend“ diese „Rare Trax“ beschließt, hat bei kleinerer Produktion die besseren Songs. „Is America dying?“, fragt Pilley dort – nicht, wenn die Europäer die amerikanische Songtradition so schön fortführen.