Wer Till Lindemann verstehen will, muss diese Bücher lesen

In „100 Gedichte“ nähert sich Till Lindemann der Beschreibungskunst seines Vaters Werner Lindemann. Der schrieb bereits in den 80ern über seinen schroffen und empfindsamen elfjährigen Sohn.

Der elfjährige Sohn hatte ein Gedicht geschrieben: „Da steht ein alter Baum/ In ihm ein hohler Raum/ Darinnen wohnt ein Specht/ Mir ist’s recht.“ Der Vater notiert: „Welch eine liebenswerte Haltung eines Elfjährigen in vier Zeilen.“

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Werner Lindemann schreibt das in seinen Erinnerungen an die Zeit mit seinem Sohn, der im Buch Timm heißt, zu Beginn der 80er-Jahre in Mecklenburg; Tills Mutter lebte in Rostock. Werner Lindemann war ein Kinderbuchautor, der auf dem Land wohnte, sein 19-jähriger Sohn suchte bei ihm Zuflucht und arbeitete als Stellmacher in einem kleinen Provinzbetrieb.

Der Sohn bleibt dem Vater fremd

„Mike Oldfield im Schaukelstuhl“, 1988 in der DDR erschienen, sind tagebuchartige Notizen über die zwei Jahre der Annäherung: wie der 56-jährige Dichter aus seiner strengen Routine und Selbstzucht, der Naturbeobachtung und Hofbewirtschaftung, dem Sinnieren und Schreiben von dem ungebärdigen, schroffen und empfindsamen Sohn aufgeschreckt wird, staunend, manchmal mahnend, klagend, stolz.

Werner Lindemann: Mike Oldfield im Schaukelstuhl: Notizen eines Vaters

Die Rockmusik, die Timm hört, bleibt ihm fremd, wie auch die Promiskuität des unbekümmerten Rabauken. Timm baut einen riesigen Schaukelstuhl für seine Lotterdachkammer, das würdigt der Vater. Einmal gibt er dem Sohn eine Ohrfeige, der schubst ihn zurück, der Vater hadert mit sich. In schlaglichtartigen Erinnerungen an seine Kindheit, die letzten Kriegsmonate und die 50er-Jahre legt er sich Rechenschaft ab.


Kontroverse um „100 Gedichte“ von Till Lindemann


In einem Gespräch mit Helge Malchow im Anhang erinnert Till Lindemann sich (anders) an die gemeinsame Zeit. In seinen genialischen epigrammatischen Gedichten umkreist er Kreatur und Sexualität, Tod und Ekstase mit illusionsloser Drastik und grimmigem Witz („Ich bin ein wahrer Flegel/ Halte mich an keine Regel“).

In den längeren Prosagedichten („Ich hatte Hunger“, „Toilette“) nähert Till Lindemann sich der sensualistischen, zartherben Beschreibungskunst seines Vaters. Eine genealogische Doppeldichtung.

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