Rammstein: Auch der Rock-Ruf Deutschlands leidet
Die Debatte um mögliche strafbare Verfehlungen von Till Lindemann wird woanders nicht so diskutiert wie in Deutschland. Das spielt eine Rolle, denn Rammstein sind schon lange eine internationale Marke. Womöglich ändert sich der Blick auf die Band nun auch im Ausland.
P!nk gilt eigentlich als zuverlässige Partyveranstalterin. Die Sängerin füllte soeben mit ihren Auftritten mehrere Stadien in Deutschland. Doch als sie bei einem Gig in Köln kurz völlig unvermittelt auf Rammstein zu sprechen kam, sorgte sie in der Menge für eine gewisse Fassungslosigkeit. „Ich hoffe doch, dass mein Sohn und meine Tochter mir irgendwann mal Tickets für Rammstein kaufen werden …“, plauderte sie einfach so dahin. Als das noch nicht zu einer erwarteten Reaktion führte, fuhr P!nk fort: „Wer noch nie auf einem Rammstein-Konzert war; Leute…. da müsst ihr unbedingt mal hin! Die setzen auf der Bühne Menschen in Brand.“
Die wenigsten Besucher:innen wagten es, zu klatschen. Rammstein, so muss es die amerikanische Sängerin an diesem Abend erfahren, sind in Deutschland, zumindest außerhalb der eigenen Fanbase, eine hochumstrittene Angelegenheit. Später klärte ihre Crew sie über die Vorwürfe gegen Lindemann auf und P!nk erzählte davon sogar auf Twitter. Der Debattengegenstand, die Vorwürfe gegen Lindemann, für sie ein „Total bummer“.
Rammstein stehen anderswo schlicht für „Made in Germany“
Natürlich könnte man über diese Situation auch einfach schmunzeln. Eine weltweit auftretende Musikerin mit treuer Gefolgschaft weist bei einem Deutschland-Konzert auf einen deutschen Act hin, der überall bekannt ist (was streng genommen tatsächlich nur für Rammstein und vielleicht noch die Scorpions gilt), um einfach etwas freundlichen Applaus zu ernten. Der Partyprofi eben. Doch die von zahlreichen jungen Frauen vorgebrachten Anschuldigungen wirken wie ein Party-Crasher – und das völlig zurecht.
Ob sich nun all die Vorwürfe, die ein diffuses Bild von Partys im Backstagebereich zeichnen, letztlich zu einer oder mehreren strafbaren Verfehlungen des Sängers von Rammstein runden, wird man sehen. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt. Der Sänger versucht mit Unterlassungserklärungen die Verdachtsberichterstattung zu unterbinden. Seine Anwälte legten ein Gutachten vor, das viele Aussagen in Frage stellt.
Unabhängig davon wird hier aber auch etwas anderes ersichtlich: Rammstein stehen in vielen Teilen der Welt, bekanntermaßen nicht nur in Europa, für ein Pop-Vergnügen, das mit Show-Präsentation und Musik in zuweilen ironisierter, manchmal auch unverhohlener Form ein Dunkeldeutschland mit mythologischer Stahlkraft symbolisiert. Das rollende Lindemann-R. Die Feuersbrünste. Die Anspielungen auf Texte der Schwarzen Romantik. Das Kleiden mit protofaschistischen Symbolen. Die Zelebration von Gewalt, Dominanz und kultischer Verehrung.
Kulturwissenschaftler würden jetzt noch einiges ergänzen, denn Rammstein wurden nach ihrem beispiellosen Erfolg eben schnell auch vereinnahmt von all den Interpreten, die es glücklich und produktiv macht, wenn etwas nicht so eindeutig, rein und anschlussfähig ist, etwa wie manche Songs von P!nk. Nun wird seit Wochen über ganz andere Zusammenhänge diskutiert, manche Berichte lesen sich, bei aller journalistischen Vorsicht, wie Psychogramme eines Musikers, der mit seiner Bühnenpersona verschmolzen scheint. Beispiele aus der Vergangenheit haben hinlänglich gezeigt, dass solche Pseudopsychologie natürlich ein schwieriges Verfahren ist.
Feier der Verdorbenheit als künstlerisches Spielfeld (mit eindeutigen Grenzen)
All das ändert nichts daran, dass Rammstein eben für viele Musiker:innen oder Bands aus anderen Gefilden schlicht ein Synonym für deutsche Pop-Werthaltigkeit sind, auch wenn der Zeichenkosmos rund um die Berliner Gruppe ein düsterer, kontroverser sein sollte. Aber er wurde bisher vor allem auch von jenen, die mit Rammstein auch außerhalb Deutschlands Geld verdienen, als gewinnträchtig vermarktet. Man einigt sich auf das Eintauchen in ein Universum der dunklen Kunst, in der Schocks und Traumata in Anführungszeichen präsentiert werden, so dass es eine gewisse Angstlust bedient.
Psychoanalytiker hätten früher wohl von Seelenreinigung gesprochen, ungefilterte und unbewusste Wünsche, vielleicht gar der hinfortgewünschte Abhub einer Gesellschaft, finden in Form allgemein genießbarer Musik und mittels einer auf zwei Stunden begrenzten Feier der Verdorbenheit ein Spielfeld. Das hat aber enge Grenzen: Man kann es betreten und sich mit all dem konfrontieren, das Rammstein anspricht und andeutet, man kann es aber – und das ist der entscheidende Punkt – sofort wieder verlassen. Die Band hat dafür im Rahmen ihres über Jahre geschaffenen (symbolischen) Werks ein Alleinstellungsmerkmal in der Welt der massentauglichen Musik. Sie stehen auch für Deutschland als Produzenten von außergewöhnlicher Rockmusik, so wie Kraftwerk als Erfinder außergewöhnlicher Popmusik wahrgenommen wurden.
Mit der Infragestellung, dass die Musik von Rammstein, dass vor allem die Shows der Band nicht nur eine makabere Wunschvorstellung sind (also nicht nur in den Texten und mit Gesten auf der Bühne mit Machtmissbrauch und sexueller Entwürdigung gespielt wird), sondern dass abseits der professionalisierten Live-Ereignisse womöglich Dinge passieren, die tatsächlich dem gleichen, wofür nur als Kunstprodukt, als suggestive Fantasie geworben wird, schadet der Pop-Wirkmächtigkeit des Phänomens Rammstein.
Die Frage, wie loyale Fans damit umgehen, ist dabei nur sekundär. Vielleicht sogar, was am Ende von all den Vorwürfen tatsächlich justitiabel ist. Vielmehr wird der Rock-Ruf Deutschlands ernsthaft gefährdet, wenn eines ihrer wichtigsten Exportgüter die selbst geschaffene Illusion dadurch zerstört, dass ihr Sänger dem Eindruck der Vorwürfe nach selbst nicht mehr unterscheiden kann, was Kunst ist und was Realität. Für die Inszenierung und Visualisierung von Straftaten in Musik, Film und Literatur (Stichwort: „etwas Rohypnol ins Glas“) gibt es einen großen Rahmen, sie sind von der Kunstfreiheit gedeckt. Für die reale Umsetzung außerhalb solcher künstlerischer Fantasien ist das Gesetz zuständig.
Zur Wahrnehmung der Mehrdeutigkeit von Musik und Kunst gehört der Eindruck, dass alles nur ein Spiel der Verführung ist. Welche Folgen auch immer Till Lindemanns angebliche Missbrauchshandlungen haben werden, Rammstein werden nun mit anderen Augen gesehen.