R.E.M. – It’s The End Of The World As We Know It (And We Feel Fine)
Endlich darf man in den USA wieder seine Meinung äußern - und R.E.M. sind natürlich dabei, wenn es gegen George W. Bush geht. Ein wutschnaubendes Pamphlet ist "Around The Sun" trotzdem nicht geworden, ganz im Gegenteil. Es sind versöhnliche, ja fast weltweise Töne, die auf dem neuen Album angeschlagen werden - auch wenn man sich im Studie gerne und ausgiebig stritt, Stipe, Bucks und Mills zum Stand der Dinge.
Eine Traumwoche ist das für R.E.M. nicht gerade. Zuerst muss schnellstens das Video zu „Leaving New York“ fertig werden. Peter Buck und Mike Mills stehen etwas verloren auf einer großen weißen Bühne nun. Michael Stipe sitzt in einem Flugzeug am JFK, ohne abzuheben. Immerhin gefällt ihnen das Resultat – und MTV auch. Danach sind Gespräche geplant, im „Mandarin Oriental“, nicht weit vom Dakota Building, vor dem John Lennon erschossen wurde. Der Zeitplan stimmt nicht, obwohl er doch perfekt aufgesetzt wurde. Also wuseln Promoter, Journalisten von verschiedenen Kontinenten und die drei Hauptdarsteller von Suite zu Suite – und stolpern schon mal über das Equipment fürs nächste Fernsehinterview. Mills schaut etwas ratlos auf die Kameras, Scheinwerfer und Kabel. Die Pressefrau rät ihm, erst mal alles in dem Raum zu ignorieren. „Außer dich natürlich“, beruhigt er mich, es kann losgehen mit den Fragen. Mills lässt keine Minute sinnlos verstreichen, er hat Effizienz gelernt REM sind jetzt seit 24 Jahren im Geschäft.
Als Peter Buck auftaucht, zuckt er angesichts des hektischen Terminkalenders nur mit den Schultern. Es könnte schlimmer sein. Andere Leute müssen für ihr Geld arbeiten!“ Da ist sie wieder: diese Lässigkeit, mit der die drei heutzutage durch die Welt gehen. Sie wissen, was sie geschafft haben. Und dass sie so schnell nichts mehr schafft. Jetzt nicht mehr. Es gibt ein neues Album. „Around The Sun“ ist vielleicht das beste, das sie seit „Automatic For The People“ gemacht haben (obwohl einige der ersten Reviews eher Ratlosigkeit dokumentieren). Nach zwölf Alben ist derlei natürlich schwer zu sagen, und die Band ist erst mal nur froh, dass es fertig ist. Im vergangenen Jahr haben sie noch getourt, ein „Best Of“ veröffentlicht – und zwischendurch immer wieder an den neuen Songs gearbeitet War doch ganz schön anstrengend, das Hin und Her – und am Ende kam ein recht anderes Album heraus, als Buck erwartet hatte: „Die ersten Demos hierfür habe ich 2001 gemacht Neun oder zehn der Stücke sind welche, mit denen ich 2001 oder 2002 angefangen habe. Ich glaube, wenn wir die Platte im vergangenen Frühling abgeschlossen hätten, wäre es eher eine Rockplatte geworden. Aber dann kristallisierten sich die Songs raus, um die’s eigentlich geht, alles drängte in eine Richtung. ,Around The Sun‘, ‚Final Straw‘, ‘I Wanted To Be Wrong’ – die sind das Herz der Platte. Und dann gibt’s einen Song wie ,Boy In The The Well‘, der mir zuerst nicht so wichtig vorkam. Wir hatten ihn fast ein Jahr lang gar nicht gespielt, dann wieder entdeckt – und festgestellt, dass der toll ist. Sind wir blöd, warum sollte der nicht auf dem Album sein? So verändert sich dauernd alles.“
Im vergangenen Jahr, in den Warehouse Studios in Vancouver, hatte Mills noch begeistert erzählt, wie schnell der Song „Make It All Okay“ geschrieben wurde, was für eine Freude das war. Daraufangesprochen, schnaubt er fast: „Aber es hat Ewigkeiten gedauert, ihn aufzunehmen! Wir haben es ganz lange nicht richtig hinbekommen.“ Das klang jetzt wirklich verzweifelt Aber dann muss er doch lachen. „Bei den letzten paar Platten war es immer ähnlich: Der Aufnahmeprozess ist großartig, das läuft alles prima, macht viel Spaß – and then mixing is a pain in the ass. Das Mischen ist schwierig, war es immer und wird es wahrscheinlich immer bleiben. Der Produzent übernimmt zwar die Führung, aber jeder bringt seine Meinung ein. Und es hat ganz sicher jeder eine andere!“
Irgendwann, da sind sich alle einig, muss man einfach Schluss machen, sonst zieht sich die Arbeit bis in alle Ewigkeit hin. „Einige von uns“, sagt Mills, „arbeiten unter Zeitdruck auch besser.“ Buck ist es nicht, der arbeitet ständig hundertprozentig. Bleiben also nur zwei übrig, und denen half Produzent Pat McCarthy dabei, loszulassen. Stipe schätzt seine Arbeitsweise sehr. „Wir wollten es nicht zu poliert haben, zu lange daran sitzen. Pat McCarthy ist darin sehr gut. Er geht an die Musik mit einer sehr instinktiven Einstellung heran. Für jemanden, dessen Job es ist, Musik gut klingen zu lassen, muss es schwer sein, zuzulassen, dass etwas nicht perfekt klingt, sondern emotionales Gewicht hat“
Wenn dann die Aufnahmen geschafft sind und sogar das Mischen – dann muss man ja nur noch die richtige Reihenfolge für die Songs finden. Nur noch? Buck widerspricht: „Für mich ist das Sequencing der Platte so ähnlich, wie wenn man eine Live-Show zusammenstellt. Am Anfang soll etwas stehen, das gleich die Ohren der Leute erreicht, etwas eher Eingängiges also. In der Mitte steht dann das Zeug, das dir viel bedeutet, aber vielleicht nicht so poppy ist. Enden will man mit etwas, das einem das Gefühl gibt, dass das Leben gut ist. Oder zumindest ein bisschen besser.“ Dieser letzte Song ist entscheidend – das war er bei R.E.M immer. Ob „Untitled“ auf„Green“, „Find The River“ auf „Automatic“ oder „Electrolite“ auf „New Adventures In Hi-Fi“. Auf „Around The Sun“ ist das natürlich genauso: Es endet mit dem Titelsong, einer kleinen Hymne auf einen Menschen, der den Lauf der Zeit für einen Moment anhalten möchte, um noch ein bisschen nachdenken zu können. „So ist Michael“, lächelt Mills. „Er schreibt zwar auch über sehr finstere Dinge, aber normalerweise steckt er immer eine Spur Optimismus mit hinein, zumindest am Ende. Er will einen nicht voller Verzweiflung zurücklassen, sondern lieber mit etwas Hoffnung. Für die Musik trifft das auch zu. Wir suchen immer nach Schönheit in der Musik. Wenn wir die finden, dann kriegst du sie auch zu hören.“
Dass Buck sich so viel Mühe mit der Reihenfolge gibt, liegt an seinen eigenen Erfahrungen: „Als Jugendlicher, wenn ich unterm Kopfhörer zum ersten Mal ein Album angehört habe, war ich immer gespannt, fast ängstlich, ob mir der letzte Song auch gefallen würde, Exile‘- was ist da noch mal der letzte Song? ,Soul Survivor‘? Das ist ein guter Song, um ein Album abzuschließen. Sequencing ist sehr wichtig. Wir machen das zusammen, wir besprechen alles. Aber ich glaube ganz gern, dass ich das am besten kann.“ Was Mills und Stipe ihm schon attestiert haben. Trotzdem war Buck erleichtert, als es vorbei war: „Am Ende konnten wir uns auf nichts mehr einigen. Mal hatte das Album 15 Songs, mal nur zehn. Am Tag vorm Mastering waren es zwölf, dann haben wir doch noch einen hinzugefügt: ‘Aftermath‘. Mike und Michael fanden, der hätte vielleicht später noch besser werden können, aber ich wollte ihn gern auf dem Album haben.“
Es muss also nicht immer jeder mit allem einverstanden sein. Ganz klar ist aber, dass hinterher jeder ein bisschen unzufrieden ist, oder? Mills lacht: „Immer, immer, immer. Das liegt in der Natur der Sache. Es gibt auf jeder unserer Platten mindestens zehn Sachen, die ich gern ausbessern würde. Peter und Michael würden das sicher auch sagen – aber bei ihnen wären es ganz andere Dinge.“
Buck ist ‚Around The Sun “ eigentlich zu lang: „Ich mag 45-Minuten-Alben. Das ist uns wieder mal nicht geglückt. Aber irgendwann war es auch mal eine 70-Minuten-Platte, also haben wir uns schon beschränkt. 55 Minuten, das geht Es passiert ja einiges in der Zeit. Ich liebe zum Beispiel die Ramones, aber ich will von denen kein Doppelalbum. Wenn der Inhalt dagegen so vielfältig ist, dann kann man schon ein bisschen ausweiten. Trotzdem: Elf Songs in 45 Minuten wären perfekt, dabei bleibe ich. Es gelingt uns in letzter Zeit bloß nicht“ Mills hat sich allerdings neulich nachts im Hotelzimmer das Album noch mal angehört und festgestellt, dass es ihm gar nicht wie eine Stunde vorkam. Gerettet.
Die letzten Jahre waren nicht gerade einfach für REM. Als 1997 Schlagzeuger Bill Berry die Band verließ, standen sie zunächst recht ratlos da. Gingen trotzdem ins Studio, nahmen zu dritt „Up“ auf. Wagten es, auf Tournee zu gehen, obwohl sie am Rande der Trennung standen. Und fanden wieder zueinander. Das nächste Album ,,Reveal“(200l), war schon viel unkomplizierter. Und jetzt? Mills: „Wir fühlen uns wohl als Trio. Einige Aspekte im Ausnahmeprozess fallen uns immer noch schwer, weil wir nur drei sind, aber wir kommen schon klar.“ Einen festen vierten Mann werden sie definitiv nicht aufnehmen. „Wir haben jetzt Bill Rieflin, und der ist ein fabelhafter Drummer und hat zum Glück genug Zeit für uns, wenn wir ihn brauchen. Aber REM – wir werden keinen mehr in der Band aufnehmen. Das würde sich einfach nicht richtig anfühlen. Es gab die erste Version von REM mit Bill (Berry) und dann die zweite als Trio. Mehr Versionen brauchen wir wirklich nicht, dabei bleibt es jetzt“ Noch mehr Veränderungen will auch Buck nicht.
Wie hat sich das Trio R.E.M. in den letzten sieben Jahren verändert?
Buck: ,Up‘ was dysfunctional. ‘Reteal‘ war gut, aber wir waren immer noch dabei, herauszufinden, wer wir sind. Dieses Album fühlt sich nach einer richtigen Band an. Die anderen drei Musiker (Scott McCaughey, Ken Stringfellow, Bill Rieflin) waren ja auch ständig dabei. Nach der Tour haben wir viel aufgenommen, da waren wir gut eingespielt Es kam mir vor, als wüssten wir, was wir tun. Ja, ich glaube, wir wissen, was wir tun! Wenn man so lange zusammen ist, lernt man, die Fähigkeiten jedes Einzelnen effizient einzusetzen. Warum sich um was kümmern, wenn es ein anderer besser kann? Wir verlassen uns aufeinander.
Und wenn ihr euch nicht einig seid?
Dann einigen wir uns doch irgendwie. Man muss Kompromisse machen. Manchmal streiten wir ausgiebig – und ein Jahr später erinnert sich keiner mehr, aufweicher Seite er überhaupt war. Michael passiert das häufiger. Er fragt dann, warum wir dies oder das eigentlich so gemacht haben und ich antworte: Weil du darauf bestanden hast!
Hast du manchmal Angst, dass die Inspiration eines Tages nachlässt?
Man muss einfach die Leute anschauen, die einen selbst inspirieren – Neil Young, Bob Dylan -, die haben auch in ihren 40ern große Alben gemacht Dylan hat sogar noch in seinen 60ern große Alben gemacht! Er ist einmalig, ich möchte mich nicht mit ihm vergleichen. Aber das beruhigt einen doch.
Was in eurer bisherigen Karriere fehlt, ist ein richtig mieses Album…
Die Geschichte des Rock’n’Roll lehrte einen ja, dass selbst die größten Künstler irgendwann mal ein schlechtes Album gemacht haben. Man weiß das selbst wahrscheinlich nicht. Vielleicht passiert es uns auch einmal. Aber es ist schon von Vorteil, dass wir drei Leute sind, die alle am Schreiben und Arrangieren beteiligt sind. Wenn ich Mist mache, fällt das spätestens Michael auf, und es wird kein Song draus.
Wo ordnest du „Around The Sun“ zurzeit ein?
Ich muss eine Weile damit leben. Um Weihnachten herum weiß ich wohl, was von dem Album zu halten ist Ich mag die Lieder sehr, das ist schon mal gut!
Wenn REM demnächst wieder auf Tournee gehen, wollen sie schon wieder neue Songs ausprobieren – und dann wird das nächste Album vielleicht tatsächlich ein Rockalbum. Könnte Buck sich vorstellen. Es könnte freilich auch ganz anders kommen. Bei den Konzerten hat sich schon manches Mal die Meinung der Band zu diesem oder jenem Lied geändert „Wie hieß noch mal dieser Song auf, Up‘, den wir immer spielen?“ – „Walk Unafraid?“ – „Genau, das ist einer meiner Lieblingssongs aller Zeiten! Im Studio hatten wir das nicht so hinbekommen, aber live wurde der plötzlich zu einem großartigen Rocksong.“ Lustig, dass man den Mann an eines seiner besten Stücke erinnern muss. Es sagt einiges über den kreative Output von R.E.M. In den vielen Monaten, als „Around The Sun“ langsam entstand, gab es etliche Gerüchte und Tendenzen, in welche Richtung es gehen sollte. Im Mai 2003 lautete Mills Zwischenstand noch: irgendwo zwischen „Automatic“ und „Reveal“. Würde er jetzt noch zustimmen? „Es ist nicht so dunkel wie das eine, von den Themen her; nicht so funky. Und es ist nicht so sommerlich, so üppig wie das andere. Es liegt also tatsächlich irgendwie dazwischen.“
Auftritt: die Pressefrau. Sie tippt verzweifelt auf die Uhr. Mills muss lachen: „The angel of death is coming!“ Er geht, Stipe kommt Legt sich Zigaretten hin, die er dann gar nicht raucht, und erinnert sich an die letzte Titelgeschichte im ROLLING STONE. Auf manchen Bildern waren sie ja verdammt jung! Einspruch: So alt seid ihr jetzt auch noch nicht „A different type of young“, lächelt Stipe. Und das stimmt genau. In vielerlei Hinsicht wirkt besonders der Sänger heute jünger als früher. War er in den 80erJahren noch recht verkniffen und superernsthaft, so wirkt er heute entspannter und ist auch mal zu einem Spaß aufgelegt. Es macht ihm jetzt nichts mehr aus, bei Stefan Raab oder Sarah Kuttner zu sitzen, er lächelt sich durch – solange die Fragen nicht zu privat und die Fragenden nicht allzu penetrant werden. Auf der Bühne flirtet er gern mit dem Publikum, im Gespräch gibt er sich viel Mühe, alles gewissenhaft zu beantworten. Das kann dann schon mal dauern, aber man hält die Stille gern aus, weil man weiß: Stipe ist eben keine professionelle Redemaschine, die sofort auf alles die passende simple Antwort weiß.
Das Album ist jetzt doch recht ausgeglichen – nicht nur politisch motiviert, auch sehr emotional.
Ich denke schon, dass es sich etwas ausbalanciert hat. Zum Teil liegt das daran, dass sich in diesem Land viel verändert hat in den letzten zehn, fünfzehn Monaten. Als wir uns letztes Mal unterhielten, hatte ich das Gefühl, dass viele Menschen hier Angst haben, ihre Meinung zu sagen und für das aufzustehen, woran sie glauben. Das war wohl die nötige Trauerzeit, die das Land gebraucht hat. Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus, und es ist – zumindest von meiner Perspektive aus – wieder okay, Stellung zu beziehen.
Wurde für dich das Songschreiben dadurch leichter?
Es hat mir einigen Druck genommen, nicht nur als Songwriter, auch als öffentliche Person- (Überlegt lange). Es kam mir vor, als würde ich nicht mehr in die Wildnis hineinschreien. Oder so. (Überlegt noch einmal lange) Ja. Was da passiert ist, war sehr interessant für mich. Wenn man sich in ein paar Jahren daran erinnert, wird es spannend sein, das zu analysieren: eine Zeit, in der man Angst hatte, seine Meinung zu sagen. Und dann diese aktive Zeit, als die Menschen wieder laut wurden.
Warum hat das so lange gedauert?
Das Land ging durch diese Trauerzeit, nach diesem großen Verlust der Unschuld. Auf einem emotionalen Level gab es so ein Trauma wohl nur damals, als Kennedy ermordet wurde. Als King ermordet wurde. Auf einem politischen Level: Watergate. Das alles ist mehr als 30Jahre her. Eine ganze Generation hat nie so etwas erlebt Das war eine signifikante Veränderung im Denken. Und es hat gedauert, bis vielen auffiel: Moment mal, die Reaktion darauf entspricht nicht meinen Vorstellungen! Das ist nicht das Beste für mich oder meine Familie oder meine Gemeinde oder mein Land oder die Welt
Anders als „Reveal“ hat „Around The Sun“ keinen roten Faden, oder?
‘Reveal‘ hatte dieses entspannte Feeling. Ich will immer undolorous sagen, aber ich weiß gar nicht, was das bedeutet (es bedeutet „nicht traurig“). Jedenfalls gab es dieses Gefühl von Urlaub und Hitze und Sich-Zurücklehnen und die Welt über sich hinwegspülen lassen. Diese Stimmung wollte ich erzeugen, das Versprechen eines endlosen Sommers. Diesmal hatte ich kein solches Ziel. Diese Platte wollte einfach nur fertigwerden. Die erste Single, „Leaving New York“, ist ein rührendes Liebeslied – über das sich Michael Stipe natürlich nicht genauer äußern will. Es sei doch im Vergleich zu früheren Liebeslied-Versuch sehr direkt sage ich vorsichtig. „Das ist gut,“ antwortet er. „Wenn du es so siehst ist das gut. Ich höre mir gern Interpretationen an. Ich wundere mich oft, aber ich freue mich immer, wenn es verschiedene Meinungen gibt“ Seine eigene wird er nicht preisgeben. Das war klar. War ja nur ein Versuch. „Ich gehe da von mir als Musikfan aus. Ich will einfach nicht wissen, worüber Björk oder Thom Yorke Songs schreiben. Ich will mir das selbst ausdenken. Vielleicht fünf Jahre spätem dann kann ich ein Interview über die Inspiration lesen. Aber nicht jetzt. Musik ist ein sehr individuelles Medium, das sollte man nicht zerstören. Tatsächlich erzählt Stipe oft Jahre später, wovon dieser oder jener Song handelt, aber auf die von „Around The Sun“ muss man sich zunächst selbst einen Reim machen. Stipe gibt aber zu, dass er schon manchmal einen Songtext verworfen hat, weil ihm der Grundtenor nicht gefiel. „Ich schrieb Sachen, die so gemein waren, dass ich mich entschied, sie lieber nicht zu veröffentlichen.“ Noch heute findet er, dass „The One I Love“ ein „ziemlich brutaler Song“ ist, eigentlich mag er das nicht. „Die Stimme, die da sprach, war ziemlich schrecklich.“ Er schießt noch schnell hinterher „Es war offensichtlich nicht meine!“ Was dagegen definitiv Stipes Stimme ist: die Hoffnung, die bei allen Liedern durchscheint. „Sogar ,Sad Professor‘ (von, Up‘) hatte dieses bisschen Hoffnung, denn der Typ hat diese Epiphanie, und er stellt fest, wie sein Leben bisher gelaufen ist, und er kann neu anfangen. Und weißt du was? Ich muss mich gar nicht um diese Hoffnung bemühen! Das passiert einfach. Ich bin eben optimistisch, das kommt immer durch, auch in den dunkelsten Songs. Selbst die haben einen erleuchtenden Moment“
Bei den politischen Songs – „Final Straw“, „I Wanted To Be Wrong“, „The Worst Joke Ever“ – war Stipe zudem wichtig, dass sie dem Hörer nicht zu offensichtlich seine Meinung aufdrücken. „Ich hasse predigende Songs. Ich hasse es , wenn jemand versucht, mir seine Ansichten in den Rachen zu stopfen. Das macht mich verrückt“ Stattdessen lassen REM lieber Tat sprechen: Sie gehen mit Bruce Springsteen auf die „Vote For Change“- Tour, wollen Stimmen für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry sammeln. Die Reaktionen auf die Aktion waren wie erwartet, so Mills: „Die Leute auf der linken Seite waren außer sich vor Freude, und die auf der rechten waren wütend. Es gibt ja genug Musikfans, die Republikaner sind und jetzt enttäuscht sind von uns oder Springsteen. Das ist natürlich traurig, aber die Sache ist zu wichtig, als dass man sich davon einschüchtern lassen dürfte.“
Apropos einschüchtern: Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren werden R.E.M. wieder als Vorgruppe auftreten. Für Mills kein Problem: „Es gibt nur zwei, drei Bands auf der Welt, für die wir den Support geben würden. Die E Street Band ist eine davon. Wir werden schon klarkommen. Ich erinnere mich ja noch gut daran, wie das ab Vorgruppe ist: Man muss nur halb so lange spielen, und dann kann man sich entspannen und einer tollen Band beim Arbeiten zuschauen.“ Buck sieht das ähnlich: „Ich wollte mich körperlich dafür einsetzen, dass George W. Bush aus dem Amt gewählt wird. Man kann einen Scheck ausstellen oder so, klar, das machen wir ja auch oft. Aber sich ein bisschen anzustrengen und auf Tournee zu gehen, das ist schon was anderes. Und dann noch mit Springsteen!“ Die Support-Situation nimmt er ganz gelassen: „Ich würde auf keinen Fall nach ihm spielen wollen!“ Womit er freilich Recht hat.
Selbst Michael Stipe, der sich seit einigen Jahren auf der Bühne äußerst wohl zu fühlen scheint, ist bewusst, dass das Zusammentreffen mit dem Boss nichts Alltägliches ist: „Eine Weile, nachdem wir uns entschlossen hatten mitzumachen und feststand, dass wir mit Springsteen losziehen, wurde mir erst klar, was das bedeutet: Das ist ja der Typ, den ich live gesehen habe, als ich 17 Jahre alt war! Da war ich noch auf der Highschool. Ich bin jedes Mal hingegangen, wenn er in die Nähe kam. Für mich ist es eine große Ehre, mit ihm auf einer Bühne zu stehen.“ Auf politische Ansprachen wird Stipe übrigens verzichten. „Nur da zu sein, reicht. Ich habe in den 80ern genug gepredigt, dieser Typ will ich nie wieder sein.“ He was so much older then, he’s younger than that now.