Professor Bop:
Sein Name ist fast vergessen. Zu Unrecht, denn Johnny Otis gehört zu den Schlüssemguren in der Frühgeschichte des Rhythm'n'Blues. Kaum einer weiß das besser als TV-Moderator Götz "Professor Bop" Aismann, der über jene Ära des US-Showbusiness promovierte. Ein launiges Gespräch über Big Bands, Blues und Business...
Mittwochnachmittag, kurz nach 16 Uhr. Noch ist hier nichts los. Noch balanciert niemand zwischen den vom Platzregen hinterlassenen Pfützen umher, noch bleiben die Verkaufsstände, Bierbänke und Veranstaltungszelte leer. Das ‚ulmer zelt‘-Festival erwacht erst gegen Abend. Jetzt parkt ein Van im abgesperrten Backstagebereich. Zwischen dem rückwärtigen Eingang des größten Zeltes und der geöffneten Ladetür des Kleintransporters wieseln fünf Männer geschäftig hin und her, Instrumentenkoffer und Verstärker unterm Arm – die Herren Musiker lassen nicht schleppen, das erledigen sie lieber selbst. Lediglich der Bechstein-Flügel für den Chef der Götz Alsmann Band wurde beizeiten von Profis geliefert. Jener Chef, als Musiker erfolgreich zum Beispiel mit seinem aktuellen Album „Mein Geheimnis“ (Blue Note/EMI), deutlich bekannter aber als Gastgeber der TV-Shows „Zimmer frei“ und „Eine große Nachtmusik“, hilft zunächst den Kollegen und verschwindet dann für einen kurzen Moment in der Bandgarderobe, einem liebevoll hergerichteten Bauwagen, um die nach ausgiebigem Autobahnschlaf ramponierte Tolle zu richten. Wir sind zum Gespräch verabredet, weil Alsmann, der seine Doktorarbeit über die Entwicklung der frühen unabhängigen Schallplattenindustrie der USA geschrieben hat (veröffentlicht unter dem Titel „Nichts als Krach!“, leider nur noch antiquarisch erhältlich), wie kaum ein anderer hierzulande Auskunft geben kann über die Zeit, als Schwarz und Weiß in den Musikzentren der USA gemeinsam die Rock- und Poprevolution ausbrüteten. Einer der wichtigsten Musiker jener Zeit war ein enger Freund Alsmanns, der griechischstämmige Johnny Otis, der mit „Harlem Nocturne“ und „Willie And The Hand Jive“ veritable Klassiker verantwortet.
Wie bist du als Jüngling zu einer Zeit, als alle auf Beatles, Stones und Led Zeppelin standen, auf Johnny Otis gekommen?
Ich bin halt sehr früh immer wieder über den Namen gestolpert, zum Beispiel in englischen Magazinen. Und dann tauchte Otis natürlich auch auf Platten auf, etwa von Lester Young, Charles Brown – die meistverkaufte Bluesplatte aller Zeiten, „Drifting Blues“ von Charles Brown – und bei Johnny Moore’s Three Blazers, wo er schon 1945 Schlagzeug spielte.
Kamen die aus Los Angeles oder Chicago?
Los Angeles. Nein, das war keine Musik aus Chicago, denn die war ja raubeiniger. In Chicago sang man noch von den Baumwollfeldern, in LA. nicht. Moore’s Blazers waren eigentlich die erfolgreichste Gruppe im Nat-King-Cole-Stil, also Klavier, Kontrabass, Gitarre…
…und stärker vom Swing beeinflusst als die Blueser in Chicago.
Ja, das waren sie aber eigentlich alle. Auch die, die in Chicago diese Musik machten, wollten so sein wie Louis Jordan & The Timpany Five, auch wenn sie’s nicht genau hinbekommen haben. Dann hörte ich die Originalversion von Big Mama Thorntons „Hound Dog“ von 1953 und stellte fast, dass auch dies eine Johnny-Otis-Produktion war, er spielte da ja auch dieses komische Mambo-Sehlagzeug. Wenn man sich intensiv mit Swing, Blues und Rock’n’Roll beschäftigt, stolpert man ständig über seinen Namen. Da hat man plötzlich eine Platte in der Hand vom „Dig“-Label, das ihm gehörte, und sogar im Umfeld von Frank Zappa fällt der Name. Roy Estrada, der erste Bassist der Mothers Of Invention, sang in der L.A.-mexikanischen Gesangsgruppe Little Julian Herrera And The Tigers, alles Mexikaner außer Little Julian…
Nachdem ich das Anfang der siebziger Jahre herausgefunden hatte, dachte ich mir, Mensch, muss ja wohl was dran sein an dem Mann. Und damals gehörte zu den Jazz-Standards, die auf dem Klavier zu spielen ich mich bemühte, auch „Harlem Nocturne“. Man suchte dann immer nach der definitiven Version…
Ist das von Duke Ellington?
Nein, der Titel klingt zwar nach Ellington, ist aber geschrieben von Earle Hagen, und die Otis-Version war zwar nicht die erste, aber es war Otis-Version des Stücks. Während dieser Zeit, etwa 1945, hatte er eine komplette Big Band. Interessant: Otis ist Sohn griechisch-ägyptischer Eltern, aufgewachsen in Monterey, Kalifornien, und wurde als Teenager Berufsschlagzeuger, immer in schwarzen Bands. Der Gemüseladen seines Vaters war ebenfalls im schwarzen Viertel. Nachdem er sich durch einige Big Bands gespielt hatte, tat er sich zusammen mit einem Inder namens Bardu Ali, und dieser Bardu Ali war eine große Nummer. Es gab damals viele Leute, die eine Big Band leiteten, aber eigentlich keine Musiker waren.
So eine Art Vortänzer?
So was ähnliches. Die tanzten vor den Big Bands oder sangen was, zum Beispiel Cab Calloway. Sie konnten keine der Funktionen wie Arrangeur oder Dirigent erfüllen, sahen aber sehr gut aus vor diesen Bands. Bardu Ali war so’n großer dicker Mann, immer todschick, der war eine echte Figur. In der Band landete Otis als Drummer, dann lernten die sich besser kennen und machten Business zusammen. Man organisierte eine komplette Big Band um den damals sehr jungen, gerade 24-jährigen Drummer herum, und der hatte diesen Hit mit „Harlem Nocturne“, machte dann zwei Jahre lang Tourneen und konnte danach, wie die meisten anderen auch, so eine große Band nicht mehr am Leben halten. Louis Jordan hatte das an der Westküste ja schon vorgemacht. Man reduzierte die Band auf sieben, acht Leute. Die Trompete übernahm die Funktion des Trompeten-Satzes, das Saxofon den Saxofon-Satz, und damit man das Manko wieder ausgleichen konnte, musste das Saxofon halt etwas lauter spielen. Da kaum Zeit zum Üben war, einigte man sich auf das zwölftaktige Bluesschema. Das ist zwar sehr vereinfacht dargestellt, aber so in etwa funktionierte das.
Und Otis sprang auf den Zug?
Er war halt zur richtigen Zeit am richtigen Ort, denn Los Angeles begann zu dieser Zeit eigentlich erst auf der musikalischen Landkarte aufzutauchen. Es wurde etwa zur gleichen Zeit wie Chicago zur Geburtstätte einer wichtigen Spielart des Rhythm’n’Blues. Der allerdings hieß da noch nicht so, nennen wir es also urbane schwarze Unterhaltungsmusik. Einige Jahre später übrigens wurde L.A. auch zur Geburtsstätte des Westcoast Jazz, einer Spielart des Cool Jazz. Und Otis war von vornherein einer, der alles gemacht hat. Er hat gesungen und gespielt, hatte eine Band und eine Fernsehsendung, hat Plattenlabels betrieben und sich als Talentsucher betätigt. Von dem Geld, das er mit „Harlem Nocturne“ verdiente, machte er zusammen mit Bardu Ali einen Nachtclub auf, das „Barrelhouse“, einen Club für ein schwarzes Publikum mit Rhythm’n’Blues-Musik. Er hat dann schnell festgestellt, dass ein-, zweimal die Woche hauptsächlich Weiße da waren, und dachte: Interessant, das will uns was sagen!
Machte er dann dort ein spezielles Programm für Weiße?
Er veranstaltete jede Menge Talentwettbewerbe und suchte begabten Nachwuchs. Das gefiel den Leuten, auch den Weißen.
Wir befinden uns noch in den vierziger Jahren?
Ja, genau, ’46 bis ’49 so etwa. Mit den gefundenen Talenten bestückte er seine Shows und ging mit ihnen auf Tournee. So hat er im Laufe der Zeit jede Menge spätere Stars entdeckt und gefördert. Zum Beispiel Johnny Ace, Jackie Wilson, Hank Ballard & The Midnighters, die da noch The Royais hießen, Little Esther Philips, Charles Brown, Floyd Dixon, Big Mama Thornton und eine Menge Leute mehr, die man heute nicht mehr kennt.
Viele von denen waren ja kaum je exklusiv an ein Label gebunden und nahmen für verschiedene Firmen auf.
Das ist richtig. Wenn man zu dieser Zeit in Kalifornien im Teenager-Bereich Rock oder Rhythm’n’Blues machte, konnte man an Johnny Otis einfach nicht vorbeikommen. Er war’s dann allerdings irgendwann leid, dauernd kreuz und quer durch Amerika zu touren.das haterso um 1953/54 aufgegeben. Schließlich hatte er ja auch eine große Familie.
Wann kam denn die Johnny Otis Revue zustande?
Das war ziemlich direkt nach dem ersten Hit, etwa 1949, da hat er diesen Wanderzirkus auf die Beine gestellt. Man darf nicht vergessen, er hatte zwischen 1949 und 1951 zehn Hits in den R’n’B-Charts. Einen hatte er selber gesungen, „All Night Long“, die anderen sangen Little Esther und die Robins, aus denen später The Coasters wurden. Nach vier, fünf Jahren ist er dann von Savoy Records weggegangen zu Mercury, die damals nach Hits mit Frankie Laine auf dem Sprung waren, ein großes Poplabel zu werden. Da aber fühlte er sich nicht gut behandelt, so dass er nun mal zu einem Label gehen wollte, das einem Schwarzen gehört. Also wechselte er zu Peacock Records. Deren Chef, Don Robey, stellte sich dann aber als der größte Betrüger von allen heraus. Nachdem Otis für Peacock „Hound Dog“ gemacht hatte, eröffnete er also seinen eigenen Laden, Dig Records. Er war damit dann relativ erfolgreich, so dass Capitol ihm den Stall abkaufte. Dann gab’s 1957 diese berühmte Platte, „The Johnny Otis Show“…
So lernte die Welt seinen Wanderzirkus kennen…
Stimmt, diese Platte war bei Capitol ziemlich erfolgreich. Danach kam „Willie And The Hand Jive“. Er hat dann noch eine Weile so weitergemacht, dazu hatte er ja in Los Angeles noch eine Fernsehshow. Dann aber passierte, was er immer so ausdrückt: Plötzlich, 1963/64, haben die Beatles alle arbeitslos gemacht. Er hat sich danach erstmal um Politik gekümmert, Wahlkämpfe für Bürgerrechtler organisiert und solche Sachen. 1970 gab es ein Comeback, ein Livealbum vom Jazzfestival in Monterey, ein Buch, ein neues Label, und dann hat er unter dem Namen Snatch And The Poontangs Pornoplatten veröffentlicht. So richtige schmuddelige kleine Drecksplatten. Sehr schön übrigens und lustig! Dazu sehr funky. In den Siebzigern hat er auch mit Synthesizern gearbeitet, sogar in Richtung Disco. Berührungsängste kannte er da nicht. Aber im tiefsten Grunde seines geschmacklichen Herzens war er ein Mann des Swing und des Blues, des großstädtischen Blues.
Wie bist du denn nun selbst mit ihm in Kontakt gekommen?
Im Rahmen meines Studium der Publizistik und Musikwissenschaft hatte ich die Aufgabe, ein Medienthema zu bearbeiten. Also schrieb ich über die Plattenindustrie und versuchte die Frage zu eruieren: Kann die Organisationsform von Musik, zum Beispiel die geschäftliche Struktur, auch die Musik als solche beeinflussen? Die Antwort ist ja. Natürlich hatte ich mir die Antwort schon gedacht, aber besser wäre es gewesen, wenn Beteiligte – Künstler oder Betreiber von Labels – dazu hätten Auskunft geben können. Ich habe dann zwei Reisen in die USA unternommen, die erste 1980. Dafür hatte ich einen Sack mit Adressen von dem Berliner R’n’B-Forscher Norbert Hess bekommen, unter anderem auch die von Johnny Otis. Zunächst haben wir uns geschrieben, dann telefoniert und schließlich in den USA verabredet.
Hast du während deiner US-Reise bei Johnny Otis gelebt?
Nein, ich war bei ihm zu Gast, er hat für mich gekocht. Er war ein sehr aufmerksamer Gastgeber. Wir haben über Musik gesprochen und auch zusammen gespielt. Da haben wir dann gemeinsam am Klavier gehockt – eine tolle Erfahrung! Er hatte eine schöne Hammond B-3. Aber es war auch sehr spannend, seinen Geschichten zu lauschen. Und seinem unglaublichen Gedächtnis. Immerzu hat er sein Büchlein gezückt und mir Telefonnummern gegeben. Dazu hat er einen wunderbaren, trockenen Humor.
Neben der Musik hat Otis noch jede Menge andere Sachen gemacht, nicht wahr?
Allerdings! Mit seinem Kumpel Bardu Ali hatte er zum Beispiel eine Hühnerfarm. Das war toll, der musste immer noch irgendwas zusätzlich machen, der war ein echter Entrepreneur. Nachdem sie das „Barrelhouse“ verkauft hatten, haben sie mit dem Geld – er, Bardu Ali und der Bassist Mario Delagarde, der später nach Kuba gegangen ist und Castro bei der Revolution geholfen hat – eine Hühnerfarm aufgemacht. Das stell ich mir vollkommen irrsinnig vor. Wir lachen uns darüber kaputt, dass Uli Hoeness eine Wurstfabrik hat, aber in der Rhythm’n’Blues-Geschichte gibt es noch viel absurdere Fälle.
Er hat ja sogar eine Kirche gegründet – ist Otis ein eher tiefgründiger, ernsthafter Mensch, weniger ein Hallodri?
Hallodri sicher auch ein bisschen. Er hat einfach wahnsinnig vieles gemacht. Als ich da war, hatte er zum Beispiel gerade eine Papageien-Zucht. Oder in den sechziger Jahren, da ist eine deutsche Taubenzüchter-Zeitschrift erschienen, „Der kleine Taubenfreund“ oder so. Otis war auf dem Cover, weil er an einer Taubenausstellung teilgenommen und prompt den ersten Preis gewonnen hatte. Da stand dann: „Der amerikanische Taubenzüchter John Veliotis“, so heißt er nämlich richtig. Hierzulande wusste kein Mensch, dass das Johnny Otis war. Der kam halt mit seinem Taubenpärchen nach Germany, hat sich seinen Preis abgeholt und ist wieder nach Hause. Klar, natürlich ist die Musik sein Leben, und sicherlich ist sie seine Triebfeder und Ursprung seines durchaus achtbaren Wohlstandes. Er ist halt einer, der immerzu was macht. Es kotzt ihn an, wenn sich immer alle beschweren. Gerade Musiker. Er sagt: Klar kann ich verstehen, dass ihr alle, vor allem die Schwarzen, immer schlecht behandelt worden seid, aber wer sich als Pfannekuchen verkauft, wird auch als Pfannekuchen behandelt und letztlich aufgegessen. Er ist einfach immer sehr progressiv im Denken gewesen…
Hat er sich selbst als Teil der schwarzen Musikszene gesehen?
Als Musiker gehörte er eigentlich immer in die Abteilung der Schwarzen. Er hat einen sehr dunklen Teint. Dazu erzählte er mir mal eine lustige Geschichte. Gemeinsam mit Wynonie Harris war er im Auto unterwegs. Der ebenfalls schwarze Wynonie stichelte scherzhaft und zog ihn mit dem Wort „Blackie“ auf, damals ein Schimpfwort. Zur Not war man eben „coloured“, ganz sicher aber nicht „black“. Otis nahm dann später Rache, als sie in einem Dorf angekommen waren, wo jede Menge Rednecks auf dem Dorfplatz rumlungerten. Vor all diesen Leuten herrschte er plötzlich Wynonie an: „Wie, was willst du damit sagen, du Nigger? Du bist scharf auf meine Schwester?“ Woraufhin Harris ganz blass wurde und Johnny anflehte: „Los, lass uns hier abhauen, aber schnell!“
Wie sehr haben Begegnungen mit Idolen wie Johnny Otis deine Weltsicht als junger Mann verändert?
Ich hab mich mit Reisen ja nie groß hervorgetan, ich reise eigentlich kaum, abgesehen von meinen Tourneen. Aber ich habe das Gefühl, dass man eine Verantwortung gegenüber diesen Zeitzeugen hat, egal ob Musiker oder Politiker. Wenn ich die Liste der Musiker aus der amerikanischen und auch der deutschen Geschichte betrachte, mit denen ich zum Teil auch Freundschaften pflege, dann habe ich das gute Gefühl, dass deren Erinnerungen, soweit sie sie mit mir geteilt haben, bei mir sehr gut aufgehoben sind. Man muss auf jeden Fall was draus machen. Im Zuge des Blues- und Rhythm’n’Blues-Revivals über die Jahrzehnte sind ja auch sehr viele gescheite Bücher darüber geschrieben worden. Auch tolle Liner Notes, vor allem von den großen englischen und amerikanischen Schreibern. Es fehlt so etwas noch ein bisschen im Hinblick auf die deutsche Unterhaltungsgeschichte, es gibt ein paar ordentliche Liner Notes zu entsprechenden Wiederveröffentlichungen, aber es hapert doch sehr an entsprechenden Büchern.
Kann es sein, dass diese frühen Begegnungen deinen Sinn für die Kontinuität im Unterhaltungsgeschäft, auch im deutschen, geschärft haben?
Ja, bestimmt. Allein durch die Erfahrung, dass du Billy Lee Riley der alles gemacht hat. Er hat gesungen und gespielt, hatte eine Im Rahmen meines Studium der Publizistik und Musikwissenschaft (Rockabilly-Sänger der fünfziger Jahre, Hit: „Flying Saucer Rock’n’Roll“, Anm. d. Red.) anrufst und ihm sagst: Hey, ich habe alle Ihre tollen Rockabilly-Platten und möchte gerne ein Interview mit Ihnen machen, und er dann antwortet: Naja, Rockabilly, das ist lange her, ich bin jetzt 45 und habe eine tolle Discoplatte gemacht, willst du nicht darüber was schreiben? Für diese Leute ist die Musik natürlich ein Kunsthandwerk, das sie über die Jahre hinweg kontinuierlich ausüben. Sie haben diese Musik ja nicht gemacht, um Musikwissenschaftlern oder Forschern urbaner Minderheitenkultur 50 Jahre später ein Studienobjekt an die Hand zu geben, sondern das war für sie etwas, womit sie Geld verdienen wollten. Und deshalb waren die amerikanischen Rockabilly-Musiker ja auch bass erstaunt, dass sie hier plötzlich Jahre später ein Publikum für dieses alte Zeug vorfanden.
Ähnlich ist es mit dem Blues.
Genau! Dass darübermal kemefalschen Vorstellungen aufkommen: Der amerikanische Bluessänger lebt seit Jahrzehnten im Prinzip nur noch von den weißen Studenten, die zu seinen Konzerten kommen. Der normale amerikanische Schwarze, wenn er sagen wir sechzig ist, der hört doch deutlich lieber eine alte Stevie-Wonder-Platte. Das ist einfach so. Und die großen Comeback-Aktionen, etwa von Muddy Waters, die fanden nicht auf der South Side von Chicago statt, sondern vor weißem Publikum beim Newport Jazz Festival 1960. Da erst wurde Muddy Waters quasi wiederentdeckt, denn für ein schwarzes Publikum war er zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend uninteressant geworden. Die hatten ja ein eher ethnologisch gefärbtes Interesse an dieser Musik… – …und es ist sehr interessant, was da musikalisch passierte. Die ersten Rockabilly-Bands lieferten einen sehr authentischen Blues. Nimm nur die ersten zwei, drei Sessions von Elvis. Das war stark geprägt von diesen Sachen, rhythmisch sehr unregelmäßiges Zeug, das dem Downhome Blues in seiner primitivsten Spielart durchaus nahe kommt.
Lag das daran, dass jeder mit jedem spielte?
Ja, und alles wurde von den selben Leuten produziert. Egal ob Sam Phillips oder Eddie Shuler in Lake Charles, Louisiana, da standen sie alle Schlange. Da kamen Cajuns, die Akkordeon spielten, und haben ihren Kram in selbstgebasteltem Französisch gesungen. Die nächsten waren Country-Typen, dann kamen zwei Bluesleute, und vielleicht blieb dann der Gitarrist von der Countryband noch dabei und spielte bei deren Session mit. Die durften zwar nicht zusammen einen trinken gehen, aber zusammen Musik machen, das war überhaupt kein Problem.
Die Rassentrennung wurde von den Musikern selbst ignoriert?
Absolut. Musiker interessieren sich eben nicht für Kategorisierungen und Schubladen. Und dieser ganze Rassenquatsch zählte im Studio nun mal nicht. Nur draußen.
Musik war halt immer schon ein sehr lebendiger Gegenstand.
Musik reift wie ein Camembert, und nur der antiseptische Käse schmeckt nach nichts. Jeder Feinschmecker wird dir sagen, dass ein Rohmilchkäse besser schmeckt als der aus pasteurisierter Milch.
Auch diese Vorurteile wegen des Alters der Musiker – überraschend viele gute Rock’n’Roll-Platten im Amerika der fünfziger Jahre wurden von Männern über vierzig gemacht. Bill Haley, der „ältere Herr“ – mein Gott, als „Rock Around The Ciock“ rauskam, war der gerade mal 29! Oder Gene Vincent, „Be-Bop A-Lula“, klar war das ein junger Kerl und eine tolle Platte, aber der Gitarrist, Cliff Gallup, war damals auch schon 36. Oder die Superknaller von Atlantic aus dieser Zeit, die wurden eingespielt von Männern, die zum Teil schon in Fletcher Hendersons Orchester dabei haben. Der geilste Baritonsaxofonist der Rock’n’Roll-Ära ist Haywood Henry, der war fast fünfzig, als er diese Platten augenommen hat, und half ansonsten bei Duke Ellington aus.
Der Big-Band-Swing war ja auch phantastische Tanzmusik…
Stimmt! Geh mal auf YouTube und gib The Treniers ein. Das waren die Zwillinge Cliff und Claude Trenier mit Band, die erste Gruppe mit Elektrobass übrigens. Die Kompositionen bestanden praktisch aus nichts, aber die Darbietungen waren sensationell. The Treniers waren die erste Rock’n’Roll Band, die im US-Fernsehen zu sehen war, 1953 bei Dean Martin und Jerry Lewis. Da haben sie „Rockin‘ Is Our Business“ gesungen. Unfassbar! Und diese Brüder waren auch mal mit Johnny Otis auf Tournee. Unglaubliche Choreographie.“Ragg Mopp“ – das ist das Allergrößte!