Pro und Contra: Sind Original-LPs besser als fette Boxsets ohne Extras?
Wolfgang Doebeling ist der Purist, Sassan Niasseri der Komplettist. Über das Für und Wider von Reissues
Der Purist sagt: keine Bonusstücke!
Alles eine Frage des Anspruchs. Wer keinen hat außer dem Wunsch, möglichst günstig und bequem Schallplatten mit Lieblingsmusik zu erwerben, dürfte problemlos fündig werden.
Wenn nicht sofort, dann in nicht allzu ferner Zukunft. Der Markt für wohlfeile Reissues expandiert ja seit vielen Jahren, und ein Ende ist nicht abzusehen. Logisch, denn wie sonst könnten Eigner von Verwertungsrechten sowie deren Lizenznehmer daran verdienen? Und ein probater Kaufanreiz ist halt der Preis. Also produziert man billig und geizt nicht mit Dreingaben wie jeder andere billige Jakob auf jedem beliebigen Marktplatz. Nur lockt man hier nicht mit Gratisbananen, sondern mit sogenannten Bonus-Cuts. Mehr Musik für weniger Geld, das zieht fast immer. Zumal bei Musikfreunden mit einem Verständnis von Musikgeschichte, das einem Steinbruch ähnelt, wo sich unter allerlei Geröll mit Glück und Geduld Kleinode für jeden Geschmack auftreiben lassen.
Wo der Zufall regiert, gibt es keine Malus-Cuts, keine deplatzierten Tracks, die Statik und Sequencing stören, vertrauten Flow torpedieren und letztlich ein Album zur schnöden Compilation degradieren. Immerhin gab es ursprünglich gute Gründe, etwa „Virginia Plain“ oder „What A Waster“ exklusiv als Singles an den Start zu bringen und eben nicht als LP-Tracks. Ob die betreffenden Künstler die nachträgliche Integration solcher singulären Sensationen in einen Albumkontext überhaupt je autorisierten, sei dahingestellt.
Fakt ist, die ahistorisch aufgepfropfte Zugabe greift verfälschend in den Charakter des Albums als Kunstwerk ein, selbst dann, wenn sie an und für sich hörenswert wäre. Im audiophilen Bereich, wo gehobene Ansprüche an Klang und Haptik befriedigt werden wollen, wird Liebhabern übrigens auch gelegentlich Musikmaterial angedient, das anfänglich nicht dazugehörte, allerdings auf zusätzlichen Platten, ohne das Tracklisting des eigentlichen Albums zu korrumpieren.
Teuer? Aber wie! Tröstlich immerhin: So hochpreisig ausgestattet solche Artefakte auch sein mögen, von der All-Analog-Überspielung übers jungfräuliche Vinyl bis zum Tip-on-Jacket – was ihnen immer fehlen wird, völlig ungeachtet des Preises, ist die Aura des Originals. Support your local secondhand dealer!
Wolfgang Doebeling
Der Komplettist: So viele Bonusstücke wir nur möglich!
„Sign o’ the Times“ ist ein perfektes Werk, weil Prince innerhalb von 16 Songs eine Entwicklungsreise erzählt, vom Polit-Rebellen („Sign O’ The Times“) zum friedliebenden Privatier („Adore“). Das 1987 als Meisterwerk gefeierte Doppelalbum
gibt es aber in Noch-besser: Das Reissue bietet 45 unveröffentlichte Songs, von denen Prince gern 18 weitere auf „Sign O’ The Times“ platziert hätte – die Plattenfirma verhinderte damals das Triple-LP-Format.
Wer würde nicht nachvollziehen wollen, wie ein Geniestreich geformt wird, durch Weglassungen oder Neu-Arrangements? Wer spekuliert nicht gern, warum Prince ausgerechnet auf den Song „Visions“ verzichtete? Man glaubt jetzt noch sein dröhnendes Grübeln über der Trackliste zu spüren.
Viele Original-LPs sind Kompromisslösungen. Sie sagen mehr über technische Begrenzungen aus – maximale Albumlänge von 46 Minuten – als über den Spieldauerwunsch des Künstlers. Auf „The Dark Side Of The Moon“ mussten Pink Floyd „The Great Gig In The Sky“ für die letzten sechs Sekunden in Zeitraffer abspielen, damit es noch auf die A-Seite passt. Ist doch peinlich.
Auch Reissues mit schlechten Bonus-Tracks sind schön, wie „Disintegration“ von The Cure. Es gewährt Einblick in die gesunde Selbsteinschätzung von Robert Smith, dass Gurken auf dem Original-Album nichts verloren hatten. Die Erkenntnis einer Fallhöhe zwischen Albumliedern wie „Lullaby“ und Ausschuss wie „Esten“ stimmt froh, weil Smith damals alles richtig gemacht hat.
Wichtig ist aber auch, dass lieb gewonnene Lieder ihren Platz innerhalb der Ära, der man sie zuordnet, behalten – dass die Extrastücke eines Reissues die Bandhistorie nicht umschreiben. Dass man sich etwa der Illusion hingeben darf, dass alle Songs eines Meisterwerks erst komponiert wurden, als das Meisterwerk im Kopf des Künstlers Gestalt annahm. Beatles-Experten wissen natürlich, dass „Jealous Guy“ von John Lennon einst „Child Of Nature“ hieß und drei Jahre vor dem „Imagine“-Soloalbum unter diesem Titel auch auf dem „Weißen Album“ der Beatles hätte erscheinen können. Ich wusste das nicht, habe es erst durch die Esher-Demos erfahren. Hier hat, Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung, eine Hochphase der Fab Four die Hochphase Lennons als Solosänger final überflügelt.
Und die Esher-Demos bieten noch 26 weitere Songs, die ich anhören muss! „Child Of Nature“ bleibt hoffentlich der erste und einzige Bonus- Track, der mich je runtergezogen hat.
Sassan Niasseri