Pro & Contra: ROLLING STONE streitet über neues Album von The Cure

Ist „Songs of a Lost World“ ein gutes Cure-Album? Zwei ROLLING-STONE-Redakteure, zwei Meinungen.

„Songs of a Lost World“, das neue Album von The Cure, ist erschienen. Das erste seit „4:13 Dream“ von 2008. In der ROLLING-STONE-Redaktion wird die Platte heiß diskutiert. Lesen Sie hier ein Pro und Contra zum 14. Studioalbum von Robert Smith.

Kathedrale des Weltschmerzes

★★★★★

Zum ersten Mal hörte ich diese Songs in einem Raum, den man früher Redaktionsstube nannte. Die Stube ist ganz schön groß, und es tönte aus der anderen Ecke. Ich hörte Reminiszenzen, Deja-vus, ich hörte die Londoner Philharmoniker und Mozart, „A Forest“ und „Prayers For Rain“, ja die ganze Geschichte von The Cure zog an mir vorbei.

Ich wollte keine Platte mehr von The Cure. „4:13 Dream“ vor 16 Jahren war keine Enttäuschung – ich hatte das Album gar nicht als Cure-Platte wahrgenommen. Man LEBTE ja mit Cure-Platten, und die letzte Cure-Platte, mit der ich lebte, war „Bloodflowers“. Das war im Jahr 2000.

Dieses Album gefiel manchem nicht, aber als es laut Robert Smith Teil einer Trilogie wurde, die „Pornography“ und „Disintegration“ umfasst, wurde es akzeptiert. Und Smith spielte die drei Platten im Konzert lange als „Trilogy“. Ja, er hörte gar nicht mehr auf, „Trilogy“ zu spielen und die alten Songs.

King Lear unseres Schmerzes

Irgendwann in der Zeit zwischen „4:13 Dream“ und dem neuen Album war ich bei einem Festival. The Cure traten als letzte Band auf. Es dämmerte, und das Feld vor der Bühne wurde schwarz. Alle Zuschauer waren zusammengeströmt. Es schauderte mich wohlig, noch bevor Robert Smith die Bühne betreten hatte.

Robert Smith hat heute etwas Heiligmäßiges. Er war Puck, der Troll aus dem „Sommernachtstraum“, und jetzt ist er der King Lear unseres Schmerzes. „Songs Of A Lost World“ ist ein romantischer Traum vom Verschwinden, vom Betrachten des Mondes, vom Vergehen der Zeit. „Alone“: Wir hören die charakteristischen Keyboards, ein kleines Piano-Motiv, die kratzende Gitarre. Da ist etwas wie ein Tschilpen von Vögeln oder ein fernes Bellen von Hunden. Vielleicht ist es das Geräusch des Weltalls, vielleicht ist es der Untergang einer Welt.

Und dann, nach Minuten, setzt die Stimme ein, die einzigartig weinende: „This is the end of every song we sing/ We were always sure that we would never change/ And it all stops/ Wе were always sure that wе would stay the same/ But it all stops/ Where did it go?“

Die Trommeln auf dieser Platte sind unglaublich wuchtig und statisch

Nicht alles auf „Songs Of A Lost World” ist so majestätisch, so groß und wunderschön. Aber es ist dann doch ziemlich majestätisch, groß und wunderschön. Reeves Gabrels schießt Gitarrenriffs in den etwas kitschigen Orchesterklang von „And Nothing Is Forever“. Die Trommeln auf dieser Platte sind unglaublich wuchtig und statisch. Ja, vielleicht fehlt der kregle Bass so vieler wunderbarer Pop-Songs der Cure.

Aber Robert Smith ist nicht mehr kregel.

Das letzte Stück heißt „Endsong“, es ist zehn Minuten lang, es könnten zehn Stunden sein. Es beginnt mit einem Keyboard-Motiv und Marschtrommeln. Dann kommt Robert Smith‘ flinke Gitarre hinzu. Auf die Bühne sieht sie klein wie eine Mandoline aus. Die süße Melodie verändert sich, wird dringlicher, die Trommeln bleiben, werden schneller, die Gitarre wird schärfer.

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Nach fünf Minuten erhebt Robert Smith die Stimme: „I’m outside in the dark, staring at the blood red moon/ Remembering all the hopes and dreams I had/ Wondering how I got so old/ It’s all gone, it’s all gone/ I don’t belong here anymore/ I will lose myself in time/ It won’t be long/ Left alone with nothing/ The end of every song.”

Es ist eine Klage gegen die Existenz, eine Kathedrale des Weltschmerzes. Kein Gott wird helfen.

Das letzte Wort ist „Nothing“.

Arne Willander

Loblied auf die Zerstreuung

★★½

Der Gothic-Mozart beerbt Phil Collins. Ob früher in „End“, „It’s Over“ oder jetzt „Endsong“: Kein Musiker hat so viele Collins‘sche „First of the Final Farewells“ verkündet wie Robert Smith.

Nur, ein „krönender erster Abschluss“ ist „Songs of a Lost World“ nicht. Es liegt nicht an Liedtext-Phrasen wie „You Promised Me Forever …!“ oder „Wondering How I Got So Old …!“, alles schon gesungen. Das Werk hat auch Atmosphäre. Flächen. Aber kaum Tiefe. Schlechte Melodien. Keine Hits. Sind Hits wichtig? Natürlich, und das ist kein oberflächlicher Anspruch. Jede Smith-Platte, selbst die dunkelsten, „Faith“ und „Pornography“, bestehen nur aus Hits. Sie sind Dunkles, das Hell strahlt. Mit „Songs of a Lost World“ haben beide frühen Alben die Länge von acht Liedern gemeinsam. Nur acht Lieder … je weniger Lieder, desto größer die Verantwortung für jedes einzelne, etwas zum Gelingen des Gesamtwerks beizutragen.

Smith wirkt zerstreut. Er spielt minutenlange Instrumental-Intros, doch anders als einst in „Pictures of You“, „Push“ oder „The Last Days of Summer“ entfalten sie sich nicht. Bieten Copy-and-Paste-verdächtige Wiederholungen. Sein Gefährte Simon Gallup darf den Bass auf „Grunge“ einstellen, ein im sowieso verfehlten Kompressions-Mix unpassend verwaschener Klang, wie seit 22 Jahren auch auf der Bühne.

Achten Sie auf „And Nothing Is Forever“. Nach einem Adele-goes-Symphonica-artigen Intro (schlimm genug) bratzt Gallup unvermittelt hinein. Uncanny-Valley-Effekte gibt es nun anscheinend auch in der Musik. Apologeten werden diese Abmischung als „Erwartungen unterlaufen“-Idee bezeichnen. Aber es passt nicht zusammen. Den Loudness-Bombast bieten Cure-Alben seit „The Cure“ von 2004.

Überhaupt scheint Simon Gallup sich aus dem Kompositionsprozess verabschiedet zu haben. Zeit seines Lebens muss sich Gallup gegen Vorwürfe wehren, er kopiere mit seinem Spiel Peter Hook. „All I Ever Am“ ist nun mehr New Order geworden als 1983 der Cure-Hit „The Walk“.

Reeves Gabrels wiederum darf mit seiner Gitarre so unangenehm quietschen wie seit 12 Jahren auf der Cure-Bühne. All diese krachenden Gallup-Gabrels-Momente berauben Smith seiner Ausdruckskraft. Denn er ist Pop-, nicht Rockmusiker.

Verhandelt er nun die großen Fragen unserer Zeit?

Auf Smiths Fähigkeiten als Lyriker müsste das keinen Einfluss haben. 16 Jahre lang hat er keine Songzeile für The Cure veröffentlicht. Erwartungen gehen in Richtung „verhandelt er nun die großen Fragen unserer Zeit?“. Zum Glück nicht. „Drone no Drone“ ist so vage politisch wie „Warsong“, das von einer Liebespaar-Trennung handelt.

Smiths Worte spiegeln, das ist ein häufiges Missverständnis, die Zeiten nicht wider. Er steht außerhalb der Zeit. „I will lose myself in time / It won’t be long / It’s all gone“, singt er in „Endsong“.

Er steht auch außerhalb der ihm zugedachten Jahreszeit. Von allen 14 Studioalben sind „Songs of a Lost World“ sowie „4:13 Dream“ die einzigen, die im Herbst erschienen bzw. erscheinen. Es gibt auch nur ein einziges Winteralbum, „Bloodflowers“. The Cure sind, entgegen allen Klischees über Düsternis, kalter Luft, kaltem Regen, Kerzen, die Farbe Grau und gesenkte Köpfe, keine Herbstband. „Disintegration“ erschien im Monat, der alles neu macht, Mai, „Pornography“ auch, „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ sowieso; „Faith“ und „Seventeen Seconds“ im April.

„Faith“ entstand 1981 auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs; die Gothic-Bewegung bildete sich auch als Reaktion auf den Ost-West-Konflikt und drohendem Armageddon. Aber die meisten „Faith“-Songs behandeln nicht die Neuzeit, sondern die mittelalterliche „Gormenghast“-Romantrilogie Mervin Peakes.

Cure und Marillion

Smith liest also die richtigen Bücher. In „I Can Never Say Goodbye“ zitiert er den Phantastik-Schriftsteller Ray Bradbury, der in „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ von einem Dämon erzählt, der Familien auseinanderreißt: „Something wicked this way comes / to steal away my brother’s life“. Smith hat seinen Bruder verloren (vielleicht auch die erste Verwendung des Wortes „Brother“ in einem Cure-Text). Und dann? Folgt das Lied den Harmonien des Marillion-Schlagers „Kayleigh“. Wobei, da ist sie ja im neuen Cure-Opus – eine gute Melodie.

„I Can Never Say Goodbye“ ist kein gelungener, dennoch wichtiger Song. Der erste mit Erwähnung eines Familienmitglieds und damit intimer als jene berühmte Hymne an Smiths Ehefrau Mary Poole („Lovesong“), die ohne ihre Nennung auskommt. „I Can Never say Goodbye“ hat auch ein Hendrix-artiges Solo, das dem 13 Jahre älteren Bruder Richard huldigt.

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Richard brachte dem jungen Robert das Gitarrenspiel und einen guten Musikgeschmack bei: Hendrix und Captain Beefheart. Dieses Solo zumindest ist intimer als das einstige, an Poole gerichtete Bart-Howard-Zitat „Fly Me To The Moon“ in „Lovesong“.

„Reaction“-Videos weinender Fans

Mehr als 200 Songs hat Robert Smith seit 1978 veröffentlicht. Anders als Maler, Schriftsteller oder Schauspieler werden nahezu alle Pop-Musiker spätestens ab einem Alter von 40 nicht besser. Siehe McCartney, Depeche Mode, Sting, Prince, U2. Darum muss Smith sich aber nicht sorgen. Cure-Fans zählen zu den loyalsten der Welt. Alles, was Smith ihrer Meinung nach macht, ist Gold. Das bezeugen auch die unzähligen „Reaction“-Videos weinender Fans, die ihr Glück beim Hören von „Alone“ nicht fassen können.

So viel Blindvertrauen erhalten heutzutage nur der dauertrauernde Nick Cave, dessen Gefühle anscheinend niemand verletzen will, Kritiker noch am wenigsten, sowie Thom Yorke, dem es anscheinend ausreicht, nur noch Song-Skizzen zu veröffentlichen, weil er weiß, dass das für genial befunden wird. „Songs of a Lost World“ wird, da darf man sicher sein, unzählige „… das beste Album seit ‚Disintegration‘“-Rezensionen erhalten. Die Freude über die Rückkehr ist zu groß.

Schwierige Frage also: Lieber schwache Cure als keine Cure mehr? Ja, Hauptsache sie bleiben. Auch wegen der Hoffnung auf Album 15. Zwei live bereits erprobte Stücke, „It Can Never Be The Same“ und „Another Happy Birthday“, fehlen in dieser 8-Song-Sammlung.

Sassan Niasseri

Universal Music
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