Prince: Der Weg zu „Purple Rain“ – die ROLLING-STONE-Story
Weggefährten erzählen im ROLLING STONE, wie Prince zum außergewöhnlichsten Superstar seiner Generation wurde
Die Bühne ist in lilafarbenes Licht getaucht, natürlich, und in der Mitte steht, als einziges Instrument, der lilafarbene Flügel, einsam, wuchtig. Während auf der Leinwand Muster ineinanderfließen – Rauten, Sterne, Kreise –, schreitet Prince, großer Afro, eng anliegendes dunkles Gewand, zu seinem Schemel. Atmet durch und setzt zu „When Will We B Paid?“ an, seiner Coverversion des Hits der Staple Singers. Als er gleich danach in seinen eigenen Song „The Max“ überleitet, brechen die Dämme. Schreie, Jubel, Zwischenrufe. Prince wird gefeiert, fast wie ein Priester. Ist das ein Klavierkonzert? Es ist eine Messe. Der Musiker sitzt, die Fans stehen – und sie tanzen.
Nach zwei Stunden beginnen im Fox Theatre in Atlanta Prince’ letzte zehn Minuten als Performer. Er intoniert die Zeilen jenes Songs, für den er weltberühmt ist: „You say you want a leader, but you can’t seem to make up your mind“, und schließlich: „I think you better close it and let me guide you … to the purple rain.“
„Purple Rain“ war 1984 der größte Song der Welt. Es war der Song, auf den sich alle einigen können: die Fans, die Kritiker, die Konkurrenten. Und das bis heute. Selbst die, die Prince nicht verehren, heben hier den Daumen.
„Purple Rain“ ist jene Ballade, deren Melodie so prägnant ist, dass die Leute sogar die Töne des Gitarrensolos mitsingen. Mit diesem neunminütigen Pathos-Rock-Epos kündigte Prince seinen Aufstieg zum Superstar an – und dass er diesen Thron nicht mehr freiwillig verlassen würde.
Jetzt, im Fox Theatre 32 Jahre später, ist „Purple Rain“ nur mehr eine Klavierskizze, aus der leise, aber ebenso eindringlich Hoffnung spricht. Prince legt uns den Wunsch, man möge ihm in seine Fantasiewelt folgen, noch einmal ans Herz. Wer in Atlanta dabei war, sagt, seinen bekanntesten Song spielte er selten schöner als an diesem Abend des 14. April 2016. Sein Schlussakkord auf der „Piano And A Microphone“-Tour.
Sieben Tage später ist Prince tot. Gestorben an einer versehentlichen Überdosis des Schmerzmittels Fentanyl. Seine Leiche finden Angestellte in einem Fahrstuhl des Paisley Park, seines Wohnsitzes in Minneapolis.
In die Trauer um einen der bedeutendsten Komponisten der Popgeschichte mischen sich schnell Geschäftsinteressen. Der 57-Jährige hinterlässt Tausende Aufnahmen auf Tonbändern, Kassetten und digital. Die meisten davon lagerten im „Vault“, einem Tresorraum im Paisley Park. Bereits in den ersten Wochen nach Prince’ Tod wird um sein Erbe gerungen. Ein Testament hatte er nicht verfasst. Und zu viele glauben bei der Verwertung des riesigen Back-Katalogs und bei allem Unveröffentlichten mitreden zu können. Nahe Angehörige sind seine Schwester Tyka Nelson sowie fünf Halbgeschwister. Aber auch angebliche uneheliche Kinder melden sich zu Wort. Und natürlich die Plattenfirmen, für die Prince 39 Studioalben aufnahm.
Mit „Piano and a Microphone 1983“ schließt sich ein Kreis
Heute wacht der Prince Estate, die Nachlassverwaltung der Comerica Bank and Trust, über das Vermögen des Künstlers. Die Bank steht im Austausch mit den Angehörigen und mit den Labels, bei denen Prince seine Musik veröffentlichte. Zwischen den drei Parteien herrschte oft Uneinigkeit. Doch nun, zweieinhalb Jahre nach Prince’ Tod, ist es so weit: Ein Album aus dem „Vault“ kommt in den Handel – nach der Deluxe-Edition von „Purple Rain“ (2017) erstmals eines, das komplett aus Erstveröffentlichungen besteht.
Dass der Estate seine Reihe mit „Piano And A Microphone 1983“ startet, einer Sammlung von neun Songs am Flügel, ist kein Zufall. Auf seiner letzten Konzertreise präsentierte Prince dasselbe Arrangement: nur ein Klavier und das Mikro. Am 17. April 2016, vier Tage vor seinem Tod, kündigte er bei einer Party im Paisley Park an, das Atlanta-Konzert zu veröffentlichen. Was aus der fertig abgemischten Aufnahme wird, ist bis heute unklar. Aber der Kreis schließt sich dennoch: Wer „Purple Rain“ in der „Piano And A Microphone“-Fassung hört, die Prince vor Jahrzehnten in seinem Heimstudio in Minneapolis aufzeichnete, darf seine letzten Gigs im Sinn haben. Prince, der seine manchmal opulent wie Opern arrangierten Stücke hier nun schließlich auf ihren Kern reduzierte: auf die Melodie, wie er sie an den Tasten erfunden hatte.
„Es gab zwei Gründe, die ‚Vault‘-Reihe mit diesem Album zu beginnen“, sagt Michael Howe, der im Estate für die Schatzsuche zuständig ist und bei Warner Music mit Prince zusammenarbeitete. „Wir wollten ihm Anerkennung zollen, weil er seine letzten Auftritte auf diese intime Art gestaltete.“ Der zweite Grund für die Veröffentlichung, sagt Howe, hänge mit dem Zeitpunkt der Sessions zusammen: „1983 gilt als ein Jahr, das für viele Fans kaum im Fokus stand, aber für Prince selbst ein ganz besonderes war.“
1983 war mehr als nur ein besonderes Jahr. Es war ein unwahrscheinliches, eines, das über die Karriere des damals 25-Jährigen entscheiden würde. Das einzige in der Dekade, in dem er kein Album herausbrachte – weil er im Studio hart daran arbeitete, endlich weltberühmt zu werden.
Mit seiner LP „1999“ hatte Prince erstmals die Top Ten der „Billboard“-Charts knacken können, sein Video zu „Little Red Corvette“ rotierte auf MTV. Und im April war er – mit seiner damaligen Gespielin Denise Matthews alias Vanity – erstmals auf dem Cover des ROLLING STONE („Prince’s Hot Rock“).
Das alles waren Starthilfen. Aber 1983 stand Prince noch immer vor einer Hürde, über die sein Konkurrent Michael Jackson längst gesprungen war: die Nummer eins auch bei den weißen Hörern zu sein – und damit die Nummer eins bei allen. Deshalb wandte er sich vom futuristischen R&B von „1999“ ab und versuchte sich an einem Genre, in dem bislang kein schwarzer Musiker reüssiert hatte: Crossover-Rock.
Das Ziel war ein, wie sein Keyboarder Matt Fink es ausdrückt, „white tune“ in der Art Bruce Springsteens oder Bob Segers. „Purple Rain“ sollte eine Powerhymne werden. Eine „BIC-Ballade“ der emporgehaltenen Feuerzeuge. Gemacht nicht nur für die progressiveren Hörer an der Ost- und der Westküste, sondern auch für den Mittleren Westen der USA. Als der Song fertig war, rief ein schüchterner Prince bei den Classic-Rockern von Journey an – er wollte sich von ihnen bestätigen lassen, dass „Puple Rain“ nicht nach deren „Faithfully“ klang. „Eine tolle Geste!“, vermerkte Journey-Songwriter Jonathan Cain später. „Ich hörte sofort, dass das ein Hit wird – und doch keine Kopie war.“
Der „Purple Rain“-Refrain bestand aus einer klaren Ansage: Ganze sieben Mal rief Prince schlicht den Titel. Den vergaß niemand. Seine damalige Freundin und Muse, die Sängerin Jill Jones, erinnert sich, was Prince ihr riet: „Du musst einfache Wörter benutzen. Du musst deine Hörer achten, aber so komponieren, als würdest du zu Schülern sprechen.“
Der Plan ging auf, „Purple Rain“ machte aus einem Kultstar den bedeutendsten Popstar der 80er-Jahre. Biograf Duane Tudahl, der ein Standardwerk mit dem kolossal wissenschaftlichen Titel „Prince And The Purple Rain Era Studio Sessions: 1983 and 1984“ über diese entscheidende Phase veröffentlichte, bewundert Prince’ Risikofreudigkeit. „Im Rückblick erscheint sein Aufstieg zwingend. Aber damals galt Prince als chancenlos. Er war ein Afroamerikaner, 1,58 Meter groß, trug Spitzenhandschuhe und Stilettos. Und so einer wollte der größte Rockstar sein? Und auch noch ein Sexsymbol?“
Auch das macht „Piano And A Microphone“ zu einem Tagebuch des Herbstes 1983, in dem Prince seinen Siegeszug plante. Wie keine zweite Platte liefert sie einen Einblick in das Gemüt des jungen Musikers. Denn sie ist eine Vorarbeit zu dem Sturm, den er im Jahr darauf entfachen sollte.
In der gut 35-minütigen Aufnahme floss jeder Song, einem Bewusstseinsstrom gleich, in den anderen. Prince nahm an seinem lilafarbenen Yamaha-Piano Platz, das später im „Purple Rain“-Film zu sehen sein würde, wandte sich an den Toningenieur Don Batts und stellte sicher, dass sein Mikro funktioniert: „Ist das mein Echo?“ Diese Frage sollte die einzige bleiben. Nach den ersten Takten von „17 Days“ schien Prince seine Stimmung zu erfühlen. Er sagte: „Turn the lights down“ – was wiederum die einzige Anweisung blieb, die er in dem fast menschenleeren Studio erteilte.
Von da an war Prince ganz bei sich. In der folgenden halben Stunde blickte er auf sein Leben und seine unerfüllten Träume, vereinte Vergangenheit und Zukunft, seinen Optimismus und seine Angst. In „Strange Relationship“ trauerte er der verflossenen Liebe Vanity nach. „International Lover“ gab ihm Rückhalt, weil es bereits veröffentlicht war, auf dem erfolgreichen Album „1999“. Mit Joni Mitchells „A Case Of You“ huldigte Prince seinem Vorbild – ihre Songs bezeichnete er als seine Farbenlehre. „Wednesday“ würde er als Hit für „Purple Rain“ einplanen. Das durch Aretha Franklin popularisierte Gospel-Traditional „Mary Don’t You Weep“ war eine Ermahnung an ihn selbst, niemals seine afroamerikanischen Wurzeln zu vergessen.
„God“? „We Can Fuck“!
Prince arbeitete damals überwiegend in zwei Aufnahmeräumen, dem Kiowa Trail Home Studio in Minneapolis und dem Sunset-Sound-Studio in Los Angeles – in Letzterem nur zur Miete, doch er blockte einen Raum oft tagelang, machte ihn, mit ausgelegten Blumen und Kerzen, zu einem zweiten Wohnzimmer. Wer den Raum betrat, sah aber vor allem Massen von übereinandergestapelten Tonbändern und Kassetten. Es gab Phasen, in denen buchstäblich kein Durchkommen war – nicht nur die Regale waren voll, auch auf dem Boden lagen Datenträger. Deren Beschriftungen lasen sich wie Tagebuchausschnitte, Stimmungs- und Reflexionsbarometer. Unter einer mit „God“ beschrifteten Kassette lag eine, die „We Can Fuck“ betitelt war.
Aber Prince arbeitete nicht nur an seiner Neuerfindung als Rockstar – er sehnte sich zudem danach, ein Leinwandheld zu sein. Parallel bereitete Prince seinen „Purple Rain“-Kinofilm vor. Der Streifen sollte den Aufstieg des Kid erzählen, das im Club First Avenue in Minneapolis die rivalisierende (und damals real existierende) Band The Time aussticht, seine Exfreundin zurückerobert und sich mit seinem gewalttätigen Vater versöhnt. Ob er den Durchbruch schaffen wird, steht am Ende noch in den Sternen. Aber zum Filmfinale skandiert The Kid auf der Bühne schon mal „Baby, I’m a star!“ und greift zur Gitarre. Die verspritzt, bei jeder rutschenden Handbewegung am Hals des Instruments entlang, Wasser: Prince, von sich selbst und seiner Musik berauscht, ejakuliert.
Er lebte sich in seine Kinorolle ein, fuhr täglich auf seinem lilafarbenen Motorrad zum Studio. „Doch mit dem Medium Film kamen neue Herausforderungen“, erzählt sein Chronist Tudahl. „Nie zuvor hatte Prince Verantwortung in fremde Hände gegeben: Schnitt, Produktion, Drehbuch, Regie. All das stammte nicht von ihm. Es verursachte ein Gefühl der Unsicherheit.“
Doch auch auf der Bühne, dem Ort, für den er geboren wurde, lief in diesen Monaten nicht immer alles rund. Sobald Prince Kontrolle abgeben musste, gab es Probleme. Ein Test-Gig im First Avenue am 3. August wurde zwar bejubelt, die Live-Premiere des Songs „Purple Rain“ vor Heimpublikum gelang. Aber da war Prince ja auch der Boss auf den Brettern.
Rund zwei Wochen später trat James Brown im Beverly Theatre in Los Angeles auf. Der „Godfather of Soul“ hatte Michael Jackson eingeladen, mit ihm „It’s A Man’s Man’s Man’s World“ zu singen. Als Brown erfuhr, dass sich auch Prince unter den Gästen befand, forderte er ihn auf, sich dem Duett anzuschließen. Der zögerte nicht – wieso sollte er Brown und Jackson die Show überlassen? Er ließ sich von seinem hünenhaften Bodyguard Charles „Big Chick“ Huntsberry huckepack Richtung Action tragen. Was folgte, war ein einmaliges Treffen dreier Giganten. Dabei waren sich mindestens die Leute aus Prince’ Band einig, dass der Chef seine Performance vergeigte. Er versuchte die volle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, schnallte sich eine Gitarre um und präsentierte sogleich seinen nackten Oberkörper. Superstar Jackson wurde zum höflich im Takt klatschenden, jedoch irritierten Zuschauer degradiert, der sich im hinteren Bereich neben Browns Musikern einreihte.
Aber Prince’ von James Brown abgeschaute Signature-Bewegung: der Beinschwung über den gesenkten Mikroständer, bekam der gar nicht mit, und auch das Publikum stieg nicht wirklich euphorisch auf seine Darbietung ein. Dann geschah etwas, das es auf YouTube nicht zu sehen gibt: Prince verließ den Saal, ohne sich von Brown zu verabschieden, und als er sich über den Bühnenrand beugte, um Zuschauer abzuklatschen, gab das Stützlicht, an dem er sich festhielt, nach – er fiel ins Publikum. Die Jahre später veröffentlichte James-Brown-DVD warb zwar mit Michael Jackson auf dem Cover, doch der Prince-Auftritt fehlte – er hatte die Verwendung seiner kurzen missglückten Einlage verboten.
„Er kämpfte gegen die ganze Welt“
„Prince war ein bisschen nervös“, notierte James Brown später. Auch Jill Jones glaubt, dass er vielleicht deshalb so enttäuschte, weil ihm die Kontrolle über die Performance aller Beteiligten fehlte, die Spontaneität ihn überforderte: „Er sah vorbereitet aus, aber er war es nicht.“
Dass ausgerechnet Jackson ein besseres Bild abgab, soll ihn jedoch nicht gestört haben, davon sind seine langjährigen Mitstreiter überzeugt. Wendy Melvoin und Lisa Coleman, bekannt als „Wendy & Lisa“, waren die Gitarristin und die Keyboarderin seiner Band The Revolution. Auch sie haben den Auftritt gesehen, einen der wenigen seiner Zeit, bei dem beide nicht die Bühne mit ihrem Sänger teilten. „Michael wasn’t the biggest priority to kill“, sagte Melvoin damals. „It was everybody.“ Und Coleman ergänzte: „Er kämpfte gegen die ganze Welt.“
Michael jackson jedenfalls sowie James Brown, den „hardest-working man in show business“, hatte Prince fürs Erste nicht besiegen können. Nach dieser ernüchternden Erfahrung warf er sich wieder in seine Aufnahmen, arbeitete in Los Angeles und Minneapolis an „Purple Rain“. Die Klavierarbeiten dienten weiter der Regeneration und Reflexion. Die Aufnahmen von „Piano And A Microphone“ legen auch den Blick auf einen Künstler frei, der unter der Abhängigkeit von Leistungen anderer litt. „Purple Rain“-Regisseur Albert Magnoli feilte weiterhin am Drehbuch. Prince musste nicht nur darauf vertrauen, dass die Vision eines Musikers verstanden wird, der noch nie einen Kinofilm gedreht hatte. Er musste auch hoffen, dass die Produzenten, seine Manager Robert Cavallo, Joseph Ruffalo und Steven Fargnoli, die quasibiografische Geschichte ansehnlich umsetzten.
Die Vorproduktion begann bereits im September, Drehstart sollte am 1. November sein. Auf Prince kam außerdem die Aufgabe zu, den Soundtrack zu konfigurieren – allein 1983 hatten sich mehr als 40 fertige Songs angesammelt. Doch lediglich „Purple Rain“ schaffte es – in der Rockversion – von den „Piano“-Sessions in den Filmsoundtrack. Ein Beispiel dafür, mit welch großem, vielfältig arrangiertem Material Prince damals schon jonglierte.
Viele, die Prince kennen, sagen, ein intimeres Studioporträt als „Piano And A Microphone 1983“ sei kaum vorstellbar. Eine Weggefährtin, die das beurteilen kann, ist Lisa Coleman. Sie spielte mit ihm seit 1980 zusammen, prägte sechs Jahre lang Sound und Kompositionen seiner Band The Revolution. Coleman gilt als eine der wenigen assoziierten Musikerinnen, die ihm auf Tasteninstrumenten ebenbürtig waren.
Lisa Coleman hat das Klavieralbum für ROLLING STONE analysiert: „ ‚17 Days‘ sticht hervor. Das Band-Arrangement stand ja schon. Prince wollte aber wieder Zeit allein mit dem Lied verbringen, es kennenlernen wie eine neue alte Liebe.“
Coleman sagt, dass die Solo-Aufnahmen eine weniger beachtete Seite von Prince betonen: den Künstler als Pianisten. Dass er ein begnadeter Multiinstrumentalist ist, weiß man. Aber auch, wie gut er vor allem an den Tasten war? „Der Gitarrist Prince wird wie ein Gott verehrt. Doch am Klavier war er, gerade als Gospel-Interpret, ebenso einzigartig. Es war seine Seele, die die Tasten bewegte – nicht nur seine Finger. Und niemand konnte ihm in dieser Hinsicht etwas vormachen.“
Bei jeder posthumen Veröffentlichung stellt sich dennoch die Frage nach dem Willen des Künstlers. Hätte Prince zugestimmt, dass „Piano And A Microphone 1983“ erscheint? Lisa Coleman ist sich sicher: Ja, das hätte er.
Das glaubt auch Susan Rogers. Sie ist seine bekannteste Toningenieurin, betreute zwischen 1983 und 1987 Meisterwerke wie eben „Purple Rain“ und „Sign O’ The Times“. „ ‚Piano And A Microphone‘ zu veröffentlichen ist eine kluge Entscheidung. Diese Aufnahme bietet einen bislang nicht möglichen Blick in sein Inneres“, sagt Rogers, die heute als Professorin für Musikproduktion am Berklee College of Music in Boston doziert.
„Piano And A Microphone“ sei singulär in der fast 40 Jahre währenden Karriere von Prince, die erste Platte, die ihn nicht als Studiotüftler zeige. Zwar veröffentlichte Prince im Jahr 2002 mit „One Nite Alone …“ dann ein Album, das er überwiegend am Klavier einspielte, begleitet von Schlagzeug und allerlei Chor-Effekten. Doch auch dieses zeige ihn wie jedes andere seit dem 1978er-Debüt, „For You“, als ebendas: als Studiotüftler. In seinen Werken bündelte Prince eine Vielzahl von Genres, anfangs vor allem Soul und Rockabilly, Pop und Funk, und entsprechend komplex klangen die Alben.
Und mit jeder dieser Veröffentlichungen wollte Prince den vorangegangenen Erfolg überbieten. „ ‚Piano And A Microphone‘ ist jedoch kein für die Charts aufgenommenes Studioprodukt“, sagt Rogers. „Es ist ein Wohnzimmerprodukt. Aber mit einem derart guten Sound, als würden wir Songs lauschen, die nur auf ihre Veröffentlichung gewartet haben.“
„Er dachte nicht in Genres, er dachte in Tönen“
Auf dieser Sammlung höre man, viel deutlicher als auf den vielschichtigen Arrangements von „Purple Rain“, die Einflüsse seiner Kindheit: Gospel, Blues, Jazz, reduziert auf ein Spiel auf weißen und schwarzen Tasten. „Nur dass Prince eben nie in Genres dachte“, erzählt Rogers. „Er dachte nur in Tönen und Rhythmen, die ihn interessierten.“
Zumindest muss Prince gewusst haben, wie gelungen die intimen Klavieraufnahmen waren, denn der Meister warf durchaus auch mal Bänder weg. Biograf Tudahl bringt den Wert der Session auf die griffige Formel: „Man hebt nicht auf, was man nicht wertschätzt.“
Und für Prince befanden sich Studio und Wohnraum überall dort, wo ihm ein Instrument zur Verfügung stand. Sein Kiowa Trail Home Studio in Minneapolis war wie ein großes Musikzimmer. Selbstverständlich ließ er die Außenwände nach seinem Einzug 1981 umstreichen: von cremefarben zu lila. In dem zweigeschossigen Ranch-Haus am Lake Riley lebte er mit Jill Jones – in den legendären Paisley Park, seinen Studio- und Bühnenkomplex in Chanhassen, zog er erst 1987.
Jones erzählt, wie er das Kiowa Trail umbaute: „Überall waren Drähte. Ein Piano stand im oberen Stockwerk, er verkabelte es mit seinem Aufnahmeraum im Erdgeschoss.“ Es war üblich, dass Prince mitten im Gespräch aufstand, sich auf seinen Schemel setzte und in die Tasten haute. Dann waren Gäste erst mal abgemeldet. Vom zentral im Haus aufgestellten Klavier aus hatte er dennoch alles im Blick. „Wenn ich in der Küche war, sang er beim Spielen manchmal: ‚Wo ist der Pfeee-ffer?‘“
Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf und vernahm leises Geklimper. „Da saß er dann barfuß am Piano und übte.“ Aber nicht nur Pop habe ihn inspiriert. „Ich stieg in sein Auto und war überwältigt, als er die Kassetten wechselte. Alles Klassik! Chopin, Strawinsky, Schostakowitsch.“
Am ende war es der Estate-Berater Michael Howe, der Jahrzehnte später jenes Tape aufspürte, das unter Bootleggern als heiliger Gral verehrt wird. Als unterirdisch klingende, aber begehrte Raubkopie kursierten die Lieder von „Piano And A Microphone“ schon lange in Fan-Zirkeln.
Auch Howe war begeistert von diesen raren, illegalen Mitschnitten – und forschte ihnen nach. Inzwischen waren alle Songs vom Tresor des Paisley Park nach Los Angeles in die Lagerhallen-Anlage Iron Mountain gebracht worden. Sämtliche Bänder und Kassetten sind digitalisiert, auch Prince’ Festplatten wurden übertragen. Katalogisiert aber ist nur ein Teil – etliche Tonträger sind gar nicht oder falsch betitelt.
8.000 Tapes in einem Karton
Howe erzählt, dass er „Piano And A Microphone“ als TDK-Kassette aus einem der Kartons fischte, in denen 8000 weitere Tapes lagen. Achttausend. Falls sich jemand fragt, ob der Estate-Berater wegen seiner Arbeit zu bemitleiden oder zu beneiden war: Zuvor hatte er die Auswahl potenzieller „Piano“-Tonträger bereits eingegrenzt, mittels eines „Vault“-Suchmaschinen-Programms sowie mithilfe von Barcodes, die einzelnen Aufnahmen zugeordnet wurden. Aber es blieben eben immer noch 8000 Tapes übrig. Und jedes davon hat zwei Seiten, und jede Seite hätte womöglich angespielt werden müssen.
„Ich entdeckte dann eine schlichte Kassette“, erzählt Howe. „Seite A war unbeschriftet. Aber auf Seite B standen die Titel zweier ‚Piano‘-Songs, in Prince’ Handschrift. Da wusste ich, dass ich die legendäre Aufnahme in meinen Händen hielt.“ Er hatte also die analoge Master-Aufzeichnung gefunden – und deren Sound ließ sich optimieren. Das Band wurde auf Schäden hin untersucht, die Prozedur fand in einem temperatur-kontrollierten, also runtergekühlten Raum und in Anwesenheit von Sicherheitspersonal statt, das selbst den Estate-Mitarbeiter Howe auf Schritt und Tritt begleitete.
Er versichert, dass „Piano And A Microphone 1983“ die komplette Session abbildet. „Das war unser Plan: Wir veröffentlichen die gesamte Session, bis zum Ende des Audiosignals, selbst wenn wir Prince am Schluss nur noch beim Reden zugehört hätten.“
Howe gelang es auch, Don Batts für die Linernotes des Albums zu gewinnen. Der ehemalige Toningenieur ist eine Schlüsselfigur im Schaffen von Prince. Ab „Dirty Mind“ 1980 bis zu den Aufnahmen von „Purple Rain“ war er für ihn da – dies ist also auch seine Geschichte. Es war Batts, der die Sessions von „Piano And A Microphone“ betreute.
Prince, das „One Take Wonder“
Über den berühmten Weggefährten wollte der sorgsam seine Worte wählende Aufnahmeleiter noch bis vor Kurzem nicht reden. Für ROLLING STONE macht Batts eine seltene Ausnahme. Prince’ Tod war ein Schlag für ihn, er leidet noch immer darunter. Im Gespräch muss der 64-Jährige Pausen einlegen. „Aber ich möchte mein Wissen weitergeben, solange es geht, denn wir alle werden älter.“
„Prince ist das, was ich ein ‚One-Take-Wonder’ nenne“, sagt Batts. „Er betrat das Studio, und sofort ging’s los. BANG! BANG! BANG! Schnellfeuer! Bis auf den Basslauf von ‚Little Red Corvette‘ kann ich mich an keine einzige Aufnahme erinnern, die er nachträglich verändert hätte.“
Er glaubt, dass die „Piano And A Microphone“-Songs auch Arbeitsproben gewesen sein könnten, die Prince mit nach Los Angeles nahm, um sie seiner Plattenfirma als mögliches „Purple Rain“-Material zu präsentieren. Gemeinsam mit dem Label hätte er dann etwa entschieden, ob diese Skizzen ausgearbeitet und in Band-Versionen erscheinen würden. „Zeitweise“, sagt Batts, „lagen sicher 80 solcher Kassetten verstreut im Studio.“ Was bedeuten würde, dass „Piano And A Microphone“ nur eine Session von etlichen weiteren ist, ein kleines Stück des Mosaiks von 1983.
Auch Batts schlug wie Susan Rogers einen akademischen Weg ein, ist heute an der University of Minnesota, Morris, als Senior Electronics Engineer tätig. Also belegt auch seine Karriere die These: Wer mit Prince arbeitet, erlebt zwar quasimilitärischen Drill, aber nach dieser Ausbildung ist jeder ein besserer Musiker und gibt sein Wissen an die nächste Generation weiter – „der Job war brutal, aber er war die Chance meines Lebens“.
Batts war es auch, der den elektronischen Sound von „1999“ und „Purple Rain“ mitprägte, weil er auf eine schlichte Frage von Prince umfassend einging – und seine Antwort die Musikwelt verändern sollte. Die Frage lautete: „Was kann das Ding noch?“ – Prince reichte Batts eine Drum Machine namens Linn LM-1. Er wünschte sich, dass sein Ingenieur darin Pads statt Knöpfe verbaut, er wollte trommeln. „Und ich schuf für Prince das Disneyland, in dem er sich austoben konnte.“
Die trockenen Klopfgeräusche dieser Beats, die an den Aufprall von Tischtennisbällen erinnern, machten „When Doves Cry“ und „Let’s Go Crazy“ unsterblich – dessen Zeile „are we gonna let the elevator bring us down, oh no“ hat mit Blick auf Prince’ Todesumstände im Paisley Park eine neue, traurige Bedeutung erlangt.
Mit songs wie diesen ging prince ins Jahr 1984 – jenes Jahr, das über Triumph oder Niederlage entscheiden sollte. Prince drehte weiter an „Purple Rain“ und schraubte immer wieder an der Tracklist des Soundtracks herum.
Irgendwann aber musste er loslassen.
Am 16. Mai 1984 veröffentlichte Prince die erste Single-Auskopplung. „When Doves Cry“ wurde seine erste Nummer eins in den US-Charts.
Am 25. Juni veröffentlichte er das Album „Purple Rain“. Es hat sich bis heute insgesamt 25 Millionen Mal verkauft.
Am 27. Juli feierte der Film seine Premiere in Hollywood. Als Prince mit der Limousine zum Mann’s Chinese Theatre vorfahren wollte, gab sein Bodyguard die Lage per Walkie-Talkie durch: Stau bis zwei Blocks vor dem Kino, die Polizei versuche die Fan-Scharen zu kontrollieren, und man sehe hier mehr Kameras als im größten Gerätemarkt. „Bitte was?!“ Vor Aufregung bekam Prince kaum ein Wort heraus, er drückte die Hand seines Tourmanagers Alan Leeds.
„Purple Rain“ hatte sieben Millionen Dollar gekostet und spielte 80 Millionen ein. Man verglich den Kid mit James Dean. Für den Score bekam Prince einen Oscar.
Er war nun endlich auch ein Rock-Superstar, nicht nur in der R&B-Welt geschätzt – mit nur einem echten Konkurrenten im Kampf um die Spitze: Bruce Springsteen. Der „Boss“ veröffentlichte im selben Jahr „Born In The U.S.A.“. Dass beide in der Grammy-Kategorie „Album des Jahres“ gegen Lionel Richie und dessen „Can’t Slow Down“ verloren, klingt heute wie ein schlechter Witz.
Und Prince war jetzt natürlich auch ein Pop-Superstar – hier hieß sein einsamer Konkurrent im Kampf um die Spitze Michael Jackson. Dessen „Thriller“ wurde nach der Veröffentlichung 1982 allerdings zum erfolgreichsten Album aller Zeiten.
Prince behielt beide im Blick, Springsteen und Jackson. Aber er versuchte nach „Purple Rain“ das Unmögliche: den Thron mit Musik zu verteidigen, die nicht wie „Purple Rain“ war. Dabei gelangen ihm zwar grandiose Platten: der südfranzösische Sundowner-Pop von „Parade“, das spirituelle Doping von „Lovesexy“. Und als er in letzter Sekunde die Veröffentlichung des wie eine Orgie klingenden „Black Album“ verhinderte, glaubten viele, das Musikjahr 1987 hätte ihre größte Platte verloren – dabei gab es vorab keinen einzigen Ton daraus zu hören. Auch aufgrund der unwahrscheinlichen stilistischen Vielfalt erscheint „Purple Rain“ heute nicht mehr als exklusiver Höhepunkt, sondern als einer von vielen Gipfeln in einer der besten Albenstrecken der Geschichte – einer, wie es sie seit den Beatles und David Bowie nicht gab.
Doch die künstlerische Selbstverwirklichung hatte ihren Preis. Rund 20 Millionen Käufer sprangen ab, als Prince nur zehn Monate nach „Purple Rain“ die beatleske Pop-Extravaganza von „Around The World In A Day“ folgen ließ. Das Risiko muss ihm bewusst gewesen sein. Eine Schlangenbeschwörerflöte eröffnet das Album, und es folgten die nicht unbedingt allen Hörern bekannten Instrumente Oud und Darbuka.
Diejenigen, die Prince treu blieben, bildeten einen Schutzring um das exzentrische Genie. Sie liebten ihn auch Mitte der 90er-Jahre, als er ein paar Jahre lang nicht mehr Prince, sondern das „Love Symbol“ sein wollte, eine Insignie, die sich nicht ohne Sonderzeichen schreiben ließ und aus Verlegenheit „TAFKAP“ abgekürzt wurde: „The Artist Formerly Known As Prince“.
In den 32 Jahren nach „Purple Rain“ blieb Prince einer der kreativsten und produktivsten Künstler der Popgeschichte. Immer wieder setzte er sich an sein lila Klavier, um zu komponieren. Über Jahrzehnte arrangierte er Lieder immer wieder neu, verfremdete sie, und das macht „Piano And A Microphone“ so einzigartig: Es lässt uns am künstlerischen Urknall teilhaben.
Als Prince sich bei seinem letzten Konzert, im April 2016 in Atlanta, an den Flügel setzte, spielte er manche Stücke so, wie er sie schon drei Jahrzehnte zuvor allein in seinem Musikzimmer gespielt hatte. Und nun badete er dafür im Applaus.
Am Tag nach dem letzten Konzert seiner Tournee musste er mit seinem Privatjet notlanden. Er war im Flieger bewusstlos geworden.
„Wait a few days before you waste any prayers“, beruhigte Prince anschließend seine Anhänger.
Es blieben ihm noch vier Tage.
Als hätte er auch den Zeitpunkt seines Todes kontrollieren können.