Folge 19

Präsente aus der Provinz

Die schreckliche Zeit der die Stadt verstopfenden der Massenevents geht bald zu Ende. Könnte für unseren Kolumnisten ein Grund zur Freude sein, wenn da nicht Corona und Winterdepression wären

Bald ist nun der Sommer vorbei, das ist für Typen wie mich ein Drama. Denn der Herbst ist immer gleich schon die Rutsche in den Winter, und der Winter heißt Depression, da es nicht genug Licht zur Endorphinbildung gibt. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Inzidenz noch weiter steigt, das Mutationen kommen und somit die Hallen auf den Tourneen nicht gefüllt sein werden, halber Lohn bei doppelten Kosten. Ganz abgesehen von der nächsten eigenen Ansteckung – mir hat die erste schon überhaupt keinen Spaß gebracht, ich habe Wochen gebraucht, um wieder zu Kräften zu kommen.

Aber ein paar Vorteile hat es schon, dass die heiße Jahreszeit vorüberzieht. Vor allem, dass der grindige Eventsommer in Hamburg endlich endet: Ironman, Schlagermove, World Triathlon Championship, Harley Days, EuroEyes Cyclassics, Mogo, Megamarsch und all die anderen Veranstaltungen verstopfen Wochenende für Wochenende die Innenstadt und Sankt Pauli. Hunderttausende von Menschen möchten der Welt zeigen, dass sie auch dabei sind, dass sie Spaß haben und sich wohl fühlen. Um das unter Beweis zu stellen, hinterlassen sie beispielsweise beim Schlagermove überall, wo sie rosaperückt entlangtanzen, in Seitenstraßen, in Hauseingängen und hinter Stromkästen eine unübersehbare Spur der Freude: Pisse, Kacke und Kotze. Als Zeichen für die Hamburger und kleines, aber feines Präsent aus der Provinz.

Bei den Sportgroßereignissen geht es primär um die Lust der Absperrung. Gittertragendes Ordnungspersonal gerät in einen regelrechten Absperrrausch. Menschen, bei denen es sonst nicht zu einem niederen Posten im Ordnungsdienst gereicht hat, dürfen nun mit gelber Warnweste endlich zusammenstauchen, wen auch immer sie möchten, zum Beispiel Leute, die auf die verwegene Idee kommen, ausgerechnet an diesem Tag die Straße, in der sie wohnen, überqueren zu wollen.

Vor kurzem bin ich mit starken Rückenschmerzen auf dem Weg zum Arzt in Hamburgs Zentrum durch den neuen Wall gehumpelt.  Schon von weitem konnte ich die undurchdringliche Menschenwand erkennen, die die Innenstadt wie eine Mauer aus Fleisch teilte. Auf Höhe Bleichenbrücke war Schluss, die Fans irgendeines Sportevents standen so eng aufeinander gebündelt, dass an ein Weiterkommen nicht zu denken war. Die meiste Zeit warteten sie, denn nur selten tröpfelten die Läufer des Ereignisses durch dieses Nadelöhr, wenn aber endlich eine versprengte Person hindurchhuschte, geriet der Haufen in grelle Verzückung, es wurde gejohlt, gepfiffen und krachmachendes Werkzeug fand seinen Einsatz. Wenn der oder die Läuferin vorüberzog, entwich die kollektive Erregung in Sekunden, und der ganze Haufen fiel in einen sekundenlanges Wartetrauma.

Ich stand mit schmerzverkniffenem Gesicht im Rücken der Claqueure und überlegte, wie ich sie dazu bringen könnte, auch mich passieren zu lassen. Ich hatte es doch mindestens genauso dringend nötig wie die Läufer*innen, zu meinem Ziel zu kommen. Außerdem fragte ich mich, welche Art von Befriedigung dieses willfährige Gelobdienere bei den Applaudierenden wohl auslöst? Wie kann man stundenlang – eng an Unbekannte gedrängt – an irgendeiner unbedeutenden Straßenecke stehen und eruptiv grölen, wenn wildfremde Menschen vorbeilaufen? Was ist das für ein absurder Impuls?

Fluchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte ich wieder nach Hause und verdammte die idiotischen Massenevents. Warum können die nicht auf einem Acker hinter Norderstedt stattfinden? Dem großen Trampelacker von Tangstedt. Dort könnten sich jedes Sommerwochenende Zigtausende treffen und herumtrampeln und vor sich hin grölen wie eine Mastochsenherde. Dazu bräuchte es dann auch gar keine sportlichen Auslöser mehr, allein das Beisammensein in Massen, das Reiben und Blöken könnte ausreichen. Schlechter Vorschlag, denn Hamburg braucht die Massen. Hamburg ist eine Abmelkmaschine. „In der Zeit zwischen 2008 und 2018 stieg die Zahl der Übernachtungen um 88%. Im Jahr 2018 verbrachten 7,2 Millionen Gäste 14,5 Millionen Nächte in den 397 gewerblichen Beherbergungsbetrieben Hamburgs. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug 2 Nächte.“ (Info Hamburg Tourism).

Der beste Beweis für den Abmelkcharakter unserer Stadt ist der Geschwindigkeitsmesser auf den Elbbrücken, der jeden Fremden, der zum ersten Mal die Hansestadt befährt und auch nur geringfügig überm Tempo liegt, sofort zur Kasse bittet – das ist der Willkommensgruß zum „Tor zur Welt“.

Bleibt den Hamburgern nur an den Wochenenden mit zugezogenen Vorhängen und verstopften Ohren zu Hause zu bleiben. Oder aus der Stadt aufs Land zu fliehen. Vielleicht könnten sie ja die Wohnungen all der Provinzler bewohnen, die übers Wochenende in der Stadt sind. Das wäre ein fairer Deal. Man könnte auch Präsente hinterlassen.

 

Die große Rocko Schamoni Schau 22

Unser Kolumnist geht mit seinem neuen Album „All Ein“ auf Tour, spielt neue Songs und liest seine „Dummheit als Weg“-Texte. Auch in Düsseldorf.

Fr. 26.08. Barmstedt, Kulturschusterei
Di. 30.08. Köln, Gloria
Mi. 31.08. Düsseldorf, Zakk
Do. 01.09. Essen, Zeche Carl
So. 18.09. Bremen, Schlachthof
Do. 22.09. Hannover, Pavillon
Mi. 28.09. München, Volkstheater
Do. 29.09. Wien, Rabenhof
Sa. 01.10. Hamburg, Schauspielhaus
Sa. 15.10. Zürich, Kosmos
So. 16.10. Stuttgart, Im Witzemann
Fr. 04.11. Göttingen Göttinger, Literaturherbst
Di. 13.12. Berlin, Festsaal Kreuzberg

 

 

 

Autorenbild von Kerstin Behrendt

 

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