Portishead: Auf der Flucht
...vor der Welt verkriechen sich Portishead in der Provinz.
Ein Grund, warum Portishead nie so richtig berühmt werden, blinzelt uns vom „The Face“-Titelblatt an. Brett Anderson, Sänger von Suede, wollte schon immer aussehen wie Ziggy Stardust ohne Schminke. Auf diesem Foto hat er’s geschafft.
Über London legt sich schon der Herbstnebel, aber die Plakate mit seinem koketten Gesicht und der blitzblanken Brust schimmern durch. Das muß man als zeitgemäßer Pop-Musiker schon draufhaben, und das ist es ja auch, was wir an England lieben: die Hysterie in Bezug auf junge blasse Gestalten, die sich für Marlene Dietrich oder Pete Townshend halten (oder für Ziggy Stardust).
In der Stadt, aus der MTV Europe sendet, muß Pop wohl so sein: „The Face“.
Deshalb werden Portishead niemals richtig berühmt werden. Ihre Gesichter halten Beth Gibbons und Geoff Barrow nämlich für eine Ansammlung von Sinnesorganen, die dazu gedacht ist, Tonbänder und Monitore zu füllen und zu kontrollieren. Bei dem Wart Popstar zuckt die Sängerin zusammen, als hätte man „Dies ist ein Überfall!“ gesagt. Ihr Partner Geoff ist der Typ Mensch, der schon eine Krise bekommt, wenn er nur für Urlaubsfotos posieren muß. Da können sie zehnmal eines der besten Alben des Jahres machen: Im Fegefeuer der Eitelkeiten werden diese beiden grundsympathischen Menschen niemals landen. Oder schmoren sie schon mittendrin?
Auf der Zugfahrt von London nach Bristol, wo das Duo lebt und arbeitet, rückt das glitzernde Bild von Suede immer weiter weg. Die Landschaften, die den Weg nach Süden säumen, sind mit Backsteinhäusern besprenkelt und sehen eher nach der Ruhe von Jahrhunderten aus als nach der Hektik des Augenblicks. Man kann sich kaum vorstellen, daß hier jemand Polaroids schießt oder Pop-Bands hypt. Vielleicht ist es auch nur der London/Manchester-Koeffizient: Je weiter die Kapitalen des Glamours entfernt sind, desto klarer sieht man.
Beth ist 29, trägt eine Brille und ein ausgewaschenes Sweatshirt. Sie sieht eher aus wie eine Studentin der Sonderpädagogik im 43. Semester als wie eine neue Billie Holiday. Geoff ist 22 und macht mit seinem Woolworth-Sonderangebot (sie nennen es Hemd) auch nicht gerade einen obergestylten Eindruck.
Die beiden sind heiße Anwärter für das Debüt des Jahres: Sie haben mit „Dummy“ eine dunkle, vibrierende Platte gemacht, die in der Schräglage zwischen Jazz und Hip-Hop neue Perspektiven eröffnet. Ein minimalistischer Beat, sparsame Vibes vom Fender Rhodes Piano, dazu singt eine Stimme aus der Seelenhölle. Hier wird der Song im Zeitalter des Samples neu verhandelt. Die HipHop-Maschine und die Jazz-Stimme: Damit wird der übliche Jazz-Rap – jazziger Hintergrund, Sprechgesang im Vordergrund – umgedreht.
Dadurch, daß die Musik von Portishead längst nicht so polternd und prätentiös auftritt wie die vielen Platten, die unter dem Etikett Jazz-HipHop Fusion laufen, hört man die Differenz sehr deutlich. Zwei Welten treffen aufeinander. Zwei Welten, die im realen Leben ihre Entsprechung haben und über die sich Beth und Geoff immer wieder verständigen müssen. „Das hat viel mit dem Altersunterschied zu tun“, sagt die Altere, und der Jüngere nickt „Wir sind anders sozialisiert und nicht unbedingt die Leute, die sich privat viel zu sagen haben.“
Beth ist ein Kind des Geschmacks-Durcheinanders der 80er Jahre. Sie hörte alles mögliche, am liebsten weibliche Stimmen aller Epochen, von Janis Joplin bis zu Liz Fraser von den Cocteau Twins. Sie hat immer in Bands gesungen, die Jazz oder Blues spielten, aber die Sache nie sonderlich ernst genommen. Als sie vor drei Jahren Geoff traf, merkte sie schnell, „daß er die Dinge zusammenbringt“.
Freunde stellten Beth und Geoff einander vor – auf einer Veranstaltung für Arbeitslose. Sie hatte gerade einen Job gekündigt, er noch nie einen gehabt. Zumindest keinen „richtigen“. Dafür einen coolen: Während einer AB-Maßnahme war Geoff in den Studios von Bristol beschäftigt. Massive Attack nahmen hier gerade „Blue Lines“ auf, er kochte Tee. Und wenn sie nachts das Studio verlassen hatten, setzte er sich an den Sampler und tüftelte. „Ich war kein guter Aufhahmeassistent“, grinst er, „weil ich nur an meine eigenen Demos dachte.“
Geoff ist ein ernsthafter Soundfreak, ein Bastler-Typ und alles andere als ein Clubber. „Das letzte Mal war ich vor drei Monaten tanzen. Ich probiere lieber neue Kombinationen von Instrumenten, Computern und Samples aus.“ Man könnte ihn vielleicht den Donald Fagen von Bristol nennen. Wie bei Steely Dan (aber natürlich ganz anders) gibt es eine scheinbar glatte, mit etlichen Details ausgemalte Oberfläche. Und ähnlich wie Fagen schiebt Geoff eine zweite, kältere, vertrackte Ebene darunter, baut Widerhaken ein, unterläuft die Aussage des Gesangs. „Musik, die einfach nur gut und harmonisch klingt, finde ich absolut gräßlich. Es muß Reibung und Spannung geben. Ich denke in Gegensätzen: Wärme – Kälte, laut – leise.“
Beth hingegen, die erst langsam mit Geoffs Art von Musik warm wurde, denkt linearer. Ihre Texte sind „wie Ausdruck dessen, was ich fühle“. Ihre Geschichten spielen, soweit man sie überhaupt heraushören kann, nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Von Einsamkeit und Unverstandensein ist da die Rede, und wenn Beth Zeilen haucht wie „Nobody knows me that’s true“, dann kann man tatsächlich an Billie Holiday denken.
Perfekt dazu passen diverse Sound-Einfälle von Geoff, der Filmmusiken aus den 60er Jahren schätzt. Er baut zum Beispiel in „Mysterons“ so einen Film-Klang ein, der klingt wie eine düster singende Säge, in Wirklichkeit aber von einem exotischen Instrument namens Thereman stammt. So wie diese Musik muß es sein, wenn sich abends die Fußgängerzone leert und Bristol zu Tristol wird.
Nur die kleine Stadt Portishead, nach der man sich benannte, liegt ein paar Meilen entfernt und ahnt nichts davon. Geoff wuchs hier auf und mußte sich jahrelang, wenn er in Bristol abhing, als „Portishead“ bespötteln lassen. Es könnte Einwohnern der Provinz-Stadt passieren, daß die irgendwo im Ausland darauf angesprochen werden: „Was, sie kommen aus Portishead? Da gibt es doch diese Band…“ Es könnte passieren. Aber nur, wenn Portishead richtig berühmt werden.