POP Shopping
Diesmal kein Kassenbon, und wenn mich der Layouter fragt, ob ich etwa mit der Form brechen will, sage ich ihm, och weißte, ich muss immer brechen, wenn ich das Wort „Form“ höre. Wenn ich das Wort „Bon“ höre übrigens auch. Im Frühstücksfernsehen mahnten sie vorhin, dass man bis Ende Mai alle Belege für die Steuer zusammengesucht haben muss, aber mein Steuerberater hat schon eine Fristverlängerung beantragt, und so bin ich erst mal fein raus und muss keinen Bon suchen, es wären für diese Folge „Pop Shopping“ ohnedies mehrere. Und auf keinem wären ausschließlich CDs zu finden, jedesmal auch Glühbirnen oder Munition für Drucker und Espressomaschine, das wäre mir eh zu intim. Der Winter war lang, diese Kolumne musste einige Ausgaben ruhen, ich eigentlich auch, kam aber nicht dazu, und deshalb wurde ich nicht krank, sondern blieb es. Insgesamt vier Antibiotika (Zithromax, Kaimax, Amoxi, Avalox) später kann ich sagen: Es hat sich gelohnt.
Ich weiß jetzt nicht nur, dass eine Mittelohrentzündung bei Erwachsenen deutlich länger dauert als bei Kindern, ich weiß nun sogar, was Mittelohrentzündung auf Englisch heißt: Middle Ear Inflammation. Kollege Hentschel war nämlich eingesprungen, als meine Ohren mittwärts entflammt waren, durfte (noch heute quält mich das) an meiner statt die Pet Shop Boys in Erfurt treffen und hat denen von meinem Hinderungsgrund erzählt. Hentschel war mal Englischlehrer oder sowas. Zum Jahresende muss er immer noch Noten vergeben, da kommt dann nämlich unser Jahresrückblick, und darauf bereitet man sich besser jetzt schon vor, also: Hat dieses Jahr bereits Platten hervorgebracht, die bleiben, die zumindest schon einige Wochen in der Nähe meines CD-Players bleiben dürfen? Aber ja! Erstaunlicherweise sind darunter drei Hipster-Platten, deren jeweilige Veröffentlichung allseits so heiß ersehnt worden war, dass sie eigentlich nur enttäuschen konnten – doch die neuen Platten von Goldfrapp, Gorillaz und Hot Chip sind komplett wunderbar und ziemlich sicher in meinen Top Ten des Jahres 2010. Goldfrapps „Head First“ muss man sich so vorstellen wie das Keyboard aus dem grauenhaften Lied „Jump“ von Van Halen, wirklich nur das Keyboard und das aber hoch zehn, ohne den ganzen schmonzigen Rest, dafür eine sexy Frauenstimme und viel Juchhuu und Billigrhythmusmaschine. Herrlich. Die Gorillaz-Platte ist – selbstverständlich – nervtötend clever, und natürlich stimmt auch, was mein Kumpel Moritz sagt, dass man nämlich Damon Albarn eigentlich pausenlos auf die Fresse hauen muss, so Cockney wie der aussieht und Zwinkerzwinker und Yoga und Google Earth und Holzmurmelkettchen aus Goa, aber diese Platte ist dennoch für die Ewigkeit, ich höre sie mindestens einmal täglich, Uhrzeit egal, anders als „One Life Stand“ von Hot Chip, das ist eine klassische 19-Uhr-Platte. Wenn der Tag auf der Kippe steht und die Nacht schon um die Ecke schielt, dann diese Platte – und es wird eine gute Nacht.
Nach einer solchen, in Leipzig verbrachten, stieg ich kürzlich in den ICE zurück nach Berlin und befand mich gerade inmitten der Aufführung des Klassikers „Kann es sein, dass Sie auf meinem reservierten Platz sitzen?“, der ja immer mit dem wortlos vorgetragenen, etwa zehnmaligen Vergleich der am Handgepäckfach angebrachten und der auf dem Reservierungsbeleg vermerkten Sitzplatznummer beginnt – da sah ich den Sänger Max Herre samt Band auf Sitzplatzsuche durch den Waggon wandern, unterbrach mein Rentnerhobby und setzte mich mit den Jungs irgendwo anders hin. Sie hatten am Abend zuvor ein Konzert gegeben, ich eine Lesung, und so konnten wir uns prima über das Showgeschäft im Allgemeinen und Leipzig im Speziellen unterhalten. Das sogenannte besonders aufmerksame Publikum Leipzigs! Ist ja wirklich so. Schwups waren wir wieder zuhause, und da kaufte ich mir umgehend die schon etwas länger draußene, weiß der Teufel warum ein bisschen an der großen Öffentlichkeit vorbeigerauschte neue Platte von Max Herre: „Ein geschenkter Tag“. Wie ich liebt Herre die frühen Lindenberg-Platten sehr, und auf seiner eigenen hört man das mehr denn je heraus, nicht nur, weil er ein altes Udo-Lied gecovert hat. Vielleicht ohne es zu merken hat er überdies sogar Bob Dylan gewissermaßen beliehen, aber nicht auf die Hegemann-Art, sondern so, wie halt die Grundzüge jeder guten Geschichte auch in der Bibel zu finden sind; Herres „Like A Rolling Stone“ heißt „Sag Bescheid“. Und das mache ich jetzt, ich sag Bescheid: Max Herre ist einer der wenigen bedeutenden, direkt ins Herz singenden deutschen Gegenwartssänger. Die jüngsten Werke aller Hamburger Streberköppe mögen mehr diskutiert werden – aber wir Mädchen hören lieber Max Herre. Der sieht auch besser aus, schöne Grüße. Ist das Folkmusik? Könnte sein. Ist aber trotzdem toll.
Jede Regel wird nur wahr durch einen Gegenbeweis: Die neue Platte einer Hamburger Band wurde direkt nicht so sehr diskutiert, obwohl oder gerade weil sie grandios ist: Die Sterne hatte man ja fast schon abgeschrieben, und als die neue Platte nun wie ein Spätwerk von Tina Turner hieß, nämlich „24/7“, musste man fast kotzen. Zu Unrecht, in den Liedern „Deine Pläne“ und „Depressionen aus der Hölle“ haben Die Sterne Schwung und Kraft wie zu Zeiten der Weltkulturerbeplatte „Posen“; Frank Spilkers Texte endlich wieder voll auf der Höhe der Wohlstandsverwahrlosung. Knapp 20 Jahre nach „Mach die Tür zu, es zieht“ haben sie das Fenster ganz weit geöffnet; das zuletzt nur noch selbstzitatinspirierte Georgel und Geschrumme ist einem unwiderstehlichen Münchner Neo-Schwabing-Club-Wumms gewichen, man tanzt dazu und freut sich. So viel zu Hamburg, so viel zu Leipzig. Zurück nach Berlin.