Pop-Diaspora Deutschland
Gerät durch die VIVA-Übernahme das deutsche Repertoire noch mehr unter die internationalen Räder? Fragen an den Ex-Universal-Chef Tim Renner.
Die VIVA-Ubernahme durch Viacom und die mittelfristige Wahrscheinlichkeit, dass von den vier Kanälen nur zwei überleben (oder aber völlig umpositioniert) werden, weist irritierende Parallelen zur Artist & Repertoire-Politik deutscher Plattenfirmen auf, die in diesen Wochen radikales Ausmisten zum Credo erhoben haben. Maarien Steinkamp, frisch gebackener Nachfolger von „Onkel Stein“ auf dem BMG-Chefsessel, läutete die nächste Schrumpfungsrunde ein, indem er sich von 60 Prozent aller Künstler trennte. „Im vergangenen Jahr“, so wird Steinkamp in der BMG-Mitarbeiterzeitschrift zitiert, „haben sich 85 Prozent der neuen Alben unserer nationalen Künstler jeweils weniger als 25000 Mal verkauft.“ Man werde die gebündelten Kräfte nun künftig nicht mehr auf One-Hit-Wonder verschwenden, sondern sich gezielt auf „career artists“ konzentrieren, auf Künstler also mit langfristigem Potenzial – zu denen Steinkamp namentlich Yvonne Catterfield, Andrea Berg und die Band Oomph! zählt -, die künftig „zu echten Marken“ ausgebaut werden sollen.
Auch bei Universal soll ein neuer Besen kräftig fegen. Frank Briegmann, der vor wenigen Wochen die Nachfolge von Tim Renner antrat, betont, die Position „gerade und vor allem auch mit starkem lokalen Repertoire“ ausbauen zu wollen. Sinnigerweise aber war es gerade diese Position, die Renner den Job kostete: Dem Drängen der neuen amerikanischen Universal-Herren, die Repertoire-Politik auf wenige, international zugkräftige Künstler zu konzentrieren, mochte Renner nicht nachgeben und zog die Konsequenzen.
„Diese Überlegungen“, so Renner, „die zurzeit in allen Konzernen angestellt werden, haben sicher ihre betriebswirtschaftliche Logik, die man nicht per se verteufeln kann. Aber jeder Manager muss sich fragen, ob er diese Position vertreten kann und will. Und zweitens: Diese Politik wird dazu führen, dass der deutsche Markt, der eh schon keine ausgeprägte Identität hat, noch mehr leiden wird. In der Regel sind es ja die eigene Produkte, die einen Markt stabilisieren. Sogar die Klaubereitschaft ist erheblich niedriger: Je besser du jemanden kennst, desto weniger wirst du klauen ob das nun in Form eines illegalen Downloads oder des physischen Tonträgers ist. Wenn du das Gefühl hast: Das ist mein Künstler, und der wohnt gleich nebenan, hast du viel mehr Hemmungen.“
Wird sich die Fusion von MTV und VIVA negativ auf die Förderung und Etablierung deutscher Künstler auswirken?
„Für die Musikwirtschaft ist die Situation natürlich saublöd, weil sie VIVA ja nur aus diesem kühlen Grunde gegründet hatte. Zumal muss man VIVA – als auch MTV – hoch anrechnen, dass sie eine erstaunliche Neuheiten-Quote haben. Innerhalb ihrer Zielgruppe liegen sie deutlich oberhalb der Ouotenforderung – was Newcomer und, im Falle von VIVA, auch den deutschsprachigen Anteil angeht. Beide sind mit Neuvorstellungen doch relativ mutig, das muss man ihnen lassen.“
Hat nicht die Tatsache, dass gleich vier Clip-Kanäle eine omnipräsente Klangtapete geschaffen haben, das Desinteresse am CD-Kauf mitausgelöst?
„Ich sehe das Argument nicht, dass die Clip-Kanäle zu der Gesamtmisere beigetragen hätten. In diesem Punkt ist das Radio weitaus problematischer. In der Medienlandschaft zählt nicht mehr Tiefe, sondern nur noch Fläche. Programmchefs des Radios reden selbst von der „Klangtapete“. Auch im TV haben polarisierende, weil inhaltsvolle TV Sendungen, wie es früher der ‚Rockpalast‘ war, keine Chance, wenn man nur auf Menge, aber nicht auf die Qualität der Zuschauer achtet. Quantität ist messbar, Qualität nicht. Manager, die sich nicht trauen, Entscheidungen zu fällen, brauchen aber Zahlen, um ihr Tun zu belegen.“
Sollte es dazu kommen: Wird der Musikkonsument Renner VIVA vermissen?
„Als Konsument vermisse ich schon seit langem VIVA 2; die Umstellung auf das Teen-Programm von VIVA Plus war aus meiner Sicht fatal, zumal selbst meine 11-jährige Tochter das Programm schon uncool findet. Aber da ich mich künftig eh beruflich außerhalb dieser Formate bewegen werde, würde ich auch den Verlust von VIVA verschmerzen können.“
Renner will ab Januar ’05 das „Motor“-Label reanimieren und kündigt zudem für den 23. September die Veröffentlichung seines Buches „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm “ an, das sich mit seinen Erfahrungen in der Musikindustrie beschäftigt.