Endlich mal wird die Vorfreude auf einen Film voll befriedigt
„Poor Things“ erfüllt die Sehnsucht nach einem Kino der reinen Lust und spitzen Konfrontation.
Superheldenfilme verstopften lange Zeit die Kinos. Doch seit Barbenheimer scheint die Leinwandkunst fürs große Publikum zurück zu sein. Oder ist das doch nur eine Ausnahmeerscheinung, ein Hype, weil es so lange keine echten Magneten in den Lichtspielhäusern gab?
Tatsache ist, dass es seit einiger Zeit schwerer ist, sich auf einen Film zu freuen, sich wirklich auf ihn einlassen zu wollen. Die furchtbaren Werbemaßnahmen im Vorfeld, knallig für das Mainstream-Kino, dröge, didaktisch oder gewollt kryptisch für den Arthousebereich, machen vieles kaputt. Die Skandale sind meistens Geschmacklosigkeiten. Geschichten mit kulturellem Einschlag kämpfen gegen identitätspolitischen Ballast. Aberwitzige Fortsetzungen, lange nicht nur von Marvel-Krachern, lassen Originalität vermissen – selbst im Animationsfilmbereich, wo einstmals alles möglich war.
Aber es könnte sich etwas regen. „Poor Things“, der in Venedig den Goldenen Löwen gewann, ist ein Zeichen. Ein Film, der so sehr am Rad dreht, so sehr die Zeichen zum Brennen bringt, dass man gleichzeitig an ein längst ausgestorbenes surreales, trickreiches, intellektuelles Kino denken muss, wie es einstmals in den 60ern und 70ern existierte, und einen Film vor sich hat, der sich allen Anschlussfähigkeiten verweigert. Der neue Film von Yorgos Lanthimos mit einer buchstäblich umwerfenden Emma Stone in der Hauptrolle ist ein filmisches perpetuum mobile der visuell wie verbal exerzierten Lust, eine sexuell wie philosophisch heilsame Schockerfahrung.
Bella Baxter tanzt, tobt und springt über die Leinwand
Er erzählt die education sentimentale der Bella Baxter, einer jungen Frau, die sich das Leben nehmen will und von einem Mad Scientist (unheimlich wie anrührend als Dr.-Frankenstein-Verschnitt: Willem Dafoe) gerettet wird, in dem er ihr ungeborenes Baby in ihr Hirn pflanzt. Die kleine Bella wächst als übel gelauntes, antisoziales Mischwesen auf, das kaum zur Sprache findet und sich ungelenk durch die Welt bewegt. Ein schräger Homunkulus, der auf jedes männliche Wesen auf der Stelle anziehend wirkt. Mit Fish-Eye-Cam, irrsinnigen Einfällen (Tier-Verschnitte, beim Essen ausgestoßene Blubberblasen), hochartifiziellen Dekors und einem Humor, der sich für nichts zu schade ist, geht es in „Poor Things“ einen Unterhaltungswasserfall hinab – und zwar ab dem Moment, da Bella ihre Sexualität zu entdecken beginnt.
Die Menge der Nackt- und Sexszenen, ungewöhnlich fürs schlaffe Hollywood-Kino der letzten Jahre, wird noch übertroffen von der permanenten Artikulation von sexuellen Begierden und Unglücken. Sollte Emma Stone wirklich den Oscar gewinnen, wäre sie wohl die erste, die in einem Film mehrfach masturbiert. Obwohl Bella von einem schüchternen Schüler ihres Vaters umworben wird, begibt sie sich lieber mit einem lüsternen Gentleman (ein brüllend komisches Karriere-Highlight von Mark Ruffalo, gerade wenn er von Mrs. Baxters Lust förmlich in die Knie gezwungen wird und schließlich vor Eifersucht vergeht, wenn sie mit anderen Männern kopuliert) eine pikareske Weltreise, die sie über Lissabon bis nach Paris bringt, wo sie ihr Geschick im „furiously jumping“ in einem Bordell zur gewinnbringenden Perfektion führt.
Gewiss, „Poor Things“ bringt sich in Deckung, weil es die donnernde Luststeigerungsbiographie einer immerzu selbstbewusst auftretenden Frau andichtet. Es ist berückend zu sehen, wie Stone ihre Figur immer mehr Haltung annehmen lässt; man hat das in der Form im Kino noch nie körperlich so gestaltet gesehen, wie eine vom Leben geprellte Göre sich zu einer knallgefährlichen, unabhängigen Frau wandelt.
Hinter all den Ränkespielen versteckt sich natürlich auch eine haltlose Moral; Ambivalenz kann nicht zur Geltung kommen, ihr wird geradezu die Luft abgeschnürt. Aber das ist es, was diesen Film auch so lebendig macht: Er labt sich an sich selbst, an seiner Infektiösität. Als furiose menschliche Komödie macht sich „Poor Things“ über alle Unsinnigkeiten des Verhaltens von Mann und Frau lustig. Dabei erscheint das Viktorianische Zeitalter, in dem der Film angesiedelt ist, als perfekter Stichwortgeber. Das eruptive Ausleben von sorgsam verschleierten Begierden hat etwas Hysterisches.
Yorgos Lanthimos hat seinen Stil gefunden
Regisseur Yorgos Lanthimos, der als Teil einer griechischen Nouvelle Vague,bereits vor fast zwei Jahrzehnten auffällig wurde und mit dem subversiven Geniestreich „Dogtooth“ sein erstes Ausrufezeichen setzte (verehrt übrigens von zahlreichen Filmemachern wie Michael Haneke als einer der innovativsten europäischen Filme der letzten Zeit), hat nach schwankenden Experimenten („The Killing Of A Sacred Deer“) mit „The Favourite“ und nun „Poor Things“ seinen auch für Amerika konvertiblen Stil gefunden. Dass Emma Stone ihm dabei zur Seite steht, sozusagen als emotionale wie physische Reizfigur, ist ein Glücksfall und sollte spätestens mit dem nächsten gemeinsamen Film, der schon in der Produktion ist, belohnt werden.
Dieses Kino der audiovisuellen Überraschungen, das tief im Referenzgraben der Filmgeschichte wühlt, die osteuropäischen Surrealisten genauso zitiert wie es sich vor Augapfelbedrohern wie Terry Gilliam oder Alejandro Jodorowsky verneigt, ist nach dem kühnen wie kühlen „The Lobster“, mit dem der Filmemacher das Paarungsverhalten geschlechtsreifer Großstädter mit der Kafka-Keule zurechtkloppte, ein Feuerwerk an Witz und Ungeniertheit.
Vielleicht ordnet sich „Poor Things“ auch ganz gut bei „Oppenheimer“ und „Barbie“ ein. Auf ihre Weise erzählen alle drei von Varianten des Wahnsinns, von der Befreiung von innerem und äußerem Druck, von aufregenden Abenteuern mit ungewissem Ausgang, von Emanzipation (ebenfalls mit ungewissem Ausgang) und Puppenmenschen, die ihren Weg nicht gehen wollen, sondern müssen.
Während bei Nolan wohl klar war, dass er die Atombombe draufhaben würde, blieb es spannend, ob ihm auch ein anspruchsvolles Portrait ihres Erfinders gelingen würde. Bei „Barbie“ erschien der Spagat zwischen verspielt feministischer Grundhaltung und einem Massenprodukt, das misogyne Vorstellungen über Jahrzehnte vor allem auch in den Köpfen der Mädchen einpflanzte, geradezu verwegen. Aber die Mehrheit hat längst befunden, dass er gelang.
Und „Poor Things“? Hier lebt ein als klebrig-süffisanter Hybrid aus „Frankenhooker“ und gegen den Strich gebürsteter moderner Literatur auf, den man als pointierte Erwachsenenunterhaltung verstehen muss. In Zeiten, da alle Künste sich nur nach dem politisch Gespreizten oder eben Infantilen strecken, ist das erstens eine gute Nachricht und zweitens der Grund, warum Vorfreude auf einen Film, der ungehemmt alle Schlüssellochreize bedient und das so geschickt macht, dass er aufgrund seiner künstlerischen Ambitionen nicht angreifbar erscheint, endlich wieder belohnt wird. Man geht vergnügt und, man muss es so sagen, befriedigt aus dem Kino.