PJ Harvey live in Berlin: Große Kunst im Hexenkessel
Polly Jean Harveys magisches Konzert in der Zitadelle Spandau
von Lea Hauke
Der Auftakt zu diesem atemberaubenden Konzert könnte nicht besser gewählt sein: Wie Soldaten in die Schlacht marschieren Polly Jean Harvey und ihre Band, von Trommelwirbeln begleitet, auf die Freiluftbühne der Zitadelle in Berlin-Spandau. Während der Trommelmarsch konstant bleibt, steigt die Band ein. Der erste Song ist „Chain Of Keys“ – er zieht die Zuhörer sofort in den Bann. Es ist unglaublich, welche Präsenz die zarte Frau auf der Bühne entwickelt. So zerbrechlich und schmal wie sie auch wirkt, so stark und entschlossen singt sie. Sie ist vollkommen da. Man merkt: Der Frau ist es ernst.
Während des gesamten Konzerts gibt es keinen schwachen Moment; sogar bei schwierigen Songs wie „River Anacostia“ sitzt jeder Ton. Langsam schaukelt Harvey sich in ungeahnte Höhen und befördert sich selbst und das Publikum in eine Art Trance. „Is that Jesus on the water talking to the fallen trees? What will become of us?“, singt sie – und klingt dabei so verzweifelt, dass man sich die letzten Fragen stellt: Was wird aus uns? Was wird aus den Menschen, von denen Gott sich abwendet? Dieses Konzert ist eine Mahnwache für die Toten und zugleich eine Abrechnung mit der Welt. Tanzen ist in diesem Sinne vollkommen unangebracht. Bei „The Wheel“ tun es trotzdem einige Frauen.
Gejubelt wird, als Harvey die ersten Töne von „When Under Ether“ von „White Chalk“ anstimmt. Die zarte Jugendlichkeit in Harveys Stimme lässt daran zweifeln, dass diese Frau 47 Jahre alt sein soll. Mit dieser außergewöhnlichen Stimme malt PJ Harvey Bilder in die Köpfe – sie ist das geeignete Instrument, um die Gedichte – die auf ihren Reisen nach Afghanistan und in den Kosovo entstanden sind – in Songs zu übersetzen.
Einige Stücke des neuen Albums handeln von einer heruntergekommenen Wohngegend in Washington D.C., dem Hope Six Housing Project, Namensgeber der Platte. Bei „Ministry Of Social Affairs“ kocht Harvey in einem brodelnden Hexenkessel: Bettler, die mit verstümmelten Gliedmaßen in den Gassen sitzen, ein dämonisches Saxofon, dazu das rhythmische Schütteln von Klingelbeuteln und die treibende Wiederholung von „That’s what they want/ Money honey“. Gegen Ende erhebt sich das Stück zu einer gigantischen Kakofonie. „Let England Shake“ ist leichter zu verkraften: Das Xylofon führt federnd durch das Lied, und die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs in England sind nicht so unmittelbar wie das Elend von „The Hope Six Demolition Project“. Es ist noch hell, als das Konzert nach kaum zwei Stunden endet.
Diese Frau ist zu allem bereit. Große Kunst.