Pink Floyd des Punk
EIN NEUES ALBUM MIT sehr alten Songs, die jahrzehntelang verschollen waren? Ein Werk der musikalischen Selbstvergewisserung durch Aufarbeitung der eigenen Herkunft? In der gegenwärtigen Epoche des Retro-Pop stellt so etwas keine Sensation mehr dar – es sei denn, dass es sich bei der vergangenheitsaufarbeitenden Band ausgerechnet um Wire handelt: einstmals die entschiedensten Futuristen des britischen Pop. Zwischen 1977 und 1980 brachte die Londoner Band drei epochale LPs heraus, „Pink Flag“,“Chairs Missing“ und „154“, auf denen sie sich in rasendem Tempo vom ruppigen Punk zu liebevoll ziseliertem Artrock voranbewegten.
Ab Mitte der 80er-Jahre experimentierten sie mit Sequencern und anderen elektronischen Geräten. „Niemals wieder“, beteuert Wire-Sänger und Gitarrist Colin Newman, „haben wir Songs von den ersten drei Platten gespielt. Die waren aus den Siebzigern, Mann! Und die Siebziger waren in den Achtzigern dermaßen uncool, damit wollten wir nichts mehr zu tun haben.“
Heute blicken Wire milder auf ihre Vergangenheit; bei den Konzerten greifen sie schon länger wieder auf älteres Repertoire zurück. Ihr neues Album, „Change Becomes Us“, enthält ausschließlich alte Musik – unvollendet gebliebene, meist skizzenhafte Songs aus den späten Siebzigern. „Wir sind in den vergangenen Jahren soviel getourt, dass wir keine Zeit zum Songschreiben mehr hatten“, sagt Newman, „aber wir wollten trotzdem unbedingt neues Material spielen. Da haben wir uns an diese liegengebliebenen Fragmente erinnert. Wir haben die Ideen von damals mit den Mitteln der Gegenwart umgesetzt.“ Mit Erfolg: „Change Becomes Us“ enthält wunderbar filigran geflochtene Gitarrentexturen mit sphärisch darüber schwebenden Mellotronklängen; aber auch geradezu balladenartige Stücke, in denen Colin Newman seinen traditionell unterkühlten Gesang in eine Art Post-Punk-Crooning verwandelt. Die Musik ist melancholisch, ohne nostalgisch zu sein. Man hat das Gefühl, dass sie in einer Zwischenzeit schwebt. „Genauso wollten wir, dass es klingt: Musik aus der Zwischenzeit.“
Den Gipfel der späten Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit erreichen sie aber im letzten Stück, „Attractive Space“, das in Gesang und Harmonieführung an Pink Floyd erinnert. In den Achtzigern hatten sich Wire dagegen verwahrt, als „die Pink Floyd des Post-Punk“ bezeichnet zu werden. „Wir waren gar nicht generell dagegen“, sagt Newman. „Die Frage ist nur, um welche Phase von Pink Floyd es sich handelt. Niemand möchte ja gerne, dass seine Musik mit ,Dark Side Of The Moon‘ verglichen wird. Igitt, was für eine grässliche Platte.“ Ich dachte eigentlich eher an „See Emily Play“ „Ah“, sagt Graham Lewis, „das ist dann wieder sehr schmeichelhaft. ,See Emily Play‘! Den Vergleich muss man sich erst mal erarbeiten.“