Die menschliche Komödie – Zum Tod von Philip Roth
Er war ein Skandalschriftsteller, ein Lehrer, ein Klassiker. Nachruf auf den großen Philip Roth.
Er war ein Schriftsteller, der nicht einfach nicht mehr schrieb, sondern vernehmbar verstummt war. Alle Geschichten waren erzählt. Philip Roth hatte keine Erzählung mehr in sich. Nach 2010 befand er sich in dem, was es für Schriftsteller nicht gibt: dem Retiro. Manchmal beantwortete er Fragen zu seiner Lektüre: Studien zur Geschichte, zu Politik und Religion, zu Nebenschauplätzen. Er sagte: Ich staune jeden Morgen darüber, dass ich aufgewacht bin.
Den Nobelpreis hat Roth schließlich doch nicht bekommen. Es war der längste Running Gag der Literaturgeschichte, und er endete mit einer ironischen Pointe: Das Nobelpreiskommitee, das Philip Roth den Preis nicht gab, wurde demaskiert als ein Verein wie in einer Satire auf den Literaturbetrieb von Philip Roth. Man hat vermutet, dass die Schweinigeleien in Roths Romanen zu frivol für den Nobelpreis sind. Aber mit seinem marmornen Spätwerk, mit „Der menschliche Makel“, „Amerikanisches Idyll“, „Mein Mann, der Kommunist“, mit „Verschwörung gegen Amerika“, „Jedermann“, „Das sterbende Tier“ und „Die Demütigung“, hat Roth die großen amerikanischen Romane ebenso geschrieben wie die kleinen elegischen Divertimenti, das Familienpanorama, die erfundene Historie, die nostalgische biografische Vignette. Zuletzt schrieb er weniger Wörter und einfachere Sätze, und die Bücher waren schlank. Das Schreiben werde nicht einfacher, sagte Roth, vielleicht werde es schwerer.
Philip Roth, am 19. März 1933 geboren, war der Sohn einer jüdischen Mittelschichtsfamilie in Newark, New Jersey, der Vater ein biederer Versicherungsmakler, die Mutter eine dominante Familienvorsteherin. Er studierte zunächst Jura, dann Englische Literatur in Chicago, gründete eine Literaturzeitschrift, machte den Abschluss, verpflichtete sich beim Militär und wurde 1956 eines Rückenleidens wegen entlassen. An der Universität von Chicago lehrte er Schreiben. Erste Kurzgeschichten erschienen in Zeitschriften. 1959 veröffentlichte Roth den Kurzroman „Goodbye, Columbus“ und wurde auf die literarische Landkarte Amerikas gesetzt: frühe Preise, erste Anfeindungen. Der „jüdische Selbsthass“ wurde gefeiert und moniert. Roth heiratete die vier Jahre ältere Sekretärin Margaret Williams, verbrachte ein halbes Jahr in Europa, wurde Writer in Residence in Princeton und blieb dem akademischen Betrieb bis 1977 treu. 1962 erschien „Letting Go“, ein eklektischer, ausufernder Gesellschaftsroman, der Versuch, die großen Ahnen Henry James, Upton Sinclair und Sinclair Lewis abzuschütteln. Noch einmal, bei „When She Was Good“ (1967), blieb die traditionelle Erzählweise intakt. Dann wurde es anders.
Roth: Erotik und Judentum, das Schriftstellern und die Psychotherapie waren seine Topoi und sein Leben
1963 trennte sich Margaret von ihrem Mann, verweigerte aber die Scheidung. Margaret blieb seine Nemesis. Sie starb 1968 bei einem Autounfall. Roth begann eine Psychotherapie und fand sein Thema, seinen Ton und seinen Stil. 1969 erschien „Portnoys Beschwerden“, die ungebärdige, unverschämte, slapstickhaft übertriebene und sehr komische Plotte über einen neurotischen jüdischen Mann, der vom Sex besessen ist. „Portnoy“ war das Beste, was Roth passieren konnte: ein Skandalroman. Roth hatte die Ironie entdeckt, die Übertreibung und seine Formel. Er schrieb über jemanden, den er gut kannte, und ein paar Leute, die er ganz gut kannte, und über Frauen, die er nicht verstand, aber begehrte. Nathan Zuckerman wurde sein Alter Ego, und jetzt explodierte seine Phantasie, obwohl er sich gar nicht viel ausdenken musste: Erotik und Judentum, das Schriftstellern und die Psychotherapie waren seine Topoi und sein Leben. Er schrieb und schrieb, „Mein Leben als Mann“, „The Great American Novel“, „Professor der Begierde“. Ende der 70er-Jahre begann er die fabelhaft lustige Zuckerman-Trilogie: „Der Ghostwriter“, „Zuckermanns Befreiung“, „Die Anatomiestunde“ und eine Nachschrift, „Die Prager Orgie“. Schmale Bücher, funkelnde Schwänke. Es war: die Befreiung.
Roth heiratete die englische Schauspielerin Claire Bloom, eine Schönheit, die mit Richard Burton in dem Film „Blick zurück im Zorn“ gespielt hatte. Später schrieb Bloom ein bitter-trauriges Buch über Roths sexuelle Abenteuer, seine Launen und seine Tyrannei, sein Genie bewundernd. In den späten 80er-Jahren wandelte sich sein Schreiben zu postmodernen erzählerischen Spiegelfechtereien und Scharaden über seine jüdische Identität, eine produktive Krise – „Gegenleben“, „Täuschung“, „Operation Shylock“. Dann brachte Roth zwei Meisterwerke hervor: „Mein Leben als Sohn“ (1991), das Buch über seine Herkunft und eine ebenso zärtliche wie brutale Hommage an seinen Vater, und „Sabbaths Theater“ (1995), einen furiosen, lebensprallen, vollkommen outrierten Schelmenroman.
In seinen letzten, den spätmeisterlichen Jahren wurde Philip Roth zu jedermanns Lieblingsschriftsteller: Er wandte sich Amerika zu, er blickte zurück, er erinnerte sich nun an alles und erfand noch einiges hinzu. Es gab den Pulitzer-Preis und den National Book Award, Jahr für Jahr wurde der Nobelpreis eingefordert (auch für Thomas Pynchon und John Updike). Als Roth zu Woody Allens „Deconstructing Harry“ befragt wurde, sagte er ungehalten: Der hat doch keinen einzigen Einfall, alles von mir geklaut.
„Das sterbende Tier“ (2001) und „Jedermann“ (2006) sind Bücher über das Alter, über letzte Liebe, Würde, das Verrichten von Dingen und das Verschwinden von Menschen. In „Verschwörung gegen Amerika“ (2004) holte Roth das Amerika zurück, in dem er in den 30er- und 40er-Jahren ein Kind war und die Stimme von Walter Winchell aus dem Radioapparat hörte. Eine Dystopie, wie man heute sagt: Es hätte alles anders kommen können. Charles Lindbergh hätte Präsident werden können. In „Exit Ghost“ (2007) tritt noch einmal der alte Schlingel Nathan Zuckerman auf (und ab).
Er schrieb auf seinem Landsitz in Connecticut, am Stehpult in einem behaglichen Nebengebäude, und anschließend schaute er Baseball im Fernsehen und musste nicht aus dem Haus gehen, und wenn er nicht schrieb, war er in seiner Wohnung in New York City, wo er zuletzt lebte. In New York ist Philip Roth gestern gestorben, 85 Jahre alt, umgeben von Freunden.