Peter Lau über eine umworbene Käuferschicht, mutlose Mutmaßungen der Musikindustrie und den Irrtum des Marketing
Vor einigen Jahren eröffnete in einem Kaff in den USA ein Buch- und CD-Laden. Weil das häufiger passiert, nahm niemand davon Notiz, obwohl sich der Laden in einigen Punkten von ähnlichen Objekten unterschied. Zum einen war Borders, so der unauffällige Name des ebenso unauffälligen Geschäfts, angenehm eingerichtet: In großen Räumen standen unter warmem Licht edle Holzregale auf flauschigem Teppich, dazwischen warteten Kaffeeautomaten neben weichen Sofas auf müde Kunden. Zum anderen hatte „Borders“ ein ungewöhnliches Programm: Es gab Jazz, Klassik, Folk, Ethno und klassische Pop- und Rockmusik, aber fast keine aktuellen Produkte, weder Soul, Funk oder HipHop, noch Grunge und Plastikpop. Man ahnt, was die Branchenkenner anfangs über das „unkommerzielle“ Konzept sagten, doch sie hatten Unrecht: Während in den USA mehrere Fastfood-Musik-Ketten bankrott machten, eröffnete Borders in kurzer Zeit über 200 Filialen, gleichzeitig kopierten weitere Händler erfolgreich das Konzept.
Kann man daraus etwas lernen? Im Prinzip ja (wie es früher bei Radio Eriwan hieß).
Die deutsche Musikindustrie hat ein Problem: den Sleeper. Der Sleeper ist der schlafende Riese, der Kaufer; den die Plattenindustrie noch nicht erreicht hat, der Musikfan, der noch nicht weiß, daß er ein Musikfan ist, das „Target“, wie der Profi sagt, das für Arbeitsplätze sorgt: An dem Problem, wie, wo und wann man die 20? 30? 40? Millionen Sleeper zum Kauf von Musikprodukten animieren kann, rätseln Fachkräfte, die sonst arbeitslos wären. Der Sleeper weiß das natürlich nicht, er räkelt sich unter seiner kuscheligen Sleeper-Decke, doch um sein warmes Bett hokken Menschen, die auf ein Zeichen warten: Marketingspezialisten.
Braucht man diese Leute? Im Prinzip neb (wie es früher ebenfalls bei Radio Eriwan hieß).
Man könnte natürlich sagen: Was soll’s? Da gibt es eben Leute, die keine Platten kaufen, das ist doch deren Entscheidung, vielleicht lesen sie liebet; gehen angeln oder kochen ödere sammeln Briefmarken, die Autoindustrie versucht schließlich auch nicht, jedem, der noch kein Auto hat, eins anzudrehen, wefl die Quote erst erfüllt ist, wenn 80 Millionen Deutsche auf eigenen vier Rädern fahren. Das könnte man wohl sagen, aber es ist vielleicht etwas zu subtiL Nehmen wir doch lieber mal an, die Autoindustrie würde tatsächlich verstärkt versuchen, Benutzern des öffentlichen Nahverkehrs Autos zu verkaufen: Wären das welche, die wie Busse aussehen? Mit Werbung an der Seite, innen Stehplätze und Geruch von nassem Hund? Weil die Leute immer nur das wollen, was sie schon kennen? Oder zum Problem leere Museen: Würde man die Leute zum Besuch von Kunstausstellungen anregen, indem man genau das ausstellt, was bei allen an der Wand hängt, also Drucke aus dem Versandkatalog, Tapeten und Spinnweben?
Aber was hat das mit der Musikindustrie zu tun? Nun ja™…
Etwa 50 Prozent ihres Gewinns bezieht die Musikindustrie aus dem „Special Marketing“. Da gibt es diemenbezogene und fernsehbeworbene Compilations mit den immergleichen Songs, Soundtracks mit demselben Material, die nichts mit dem dazugehörigen Film zu tun haben, Hits von der Tankstelle oder der Drogerie mit noch mal demselben Zeug, sowie „Best Of“-Alben mit – Na, Sie wissen schon. Von Letzteren erscheinen dieses Jahr zu Weihnachten etwa 50, was ein wenig nach „Volkssturm“ riecht: Wir schmeißen noch mal alles an die Front, um zu retten, was zu retten ist. Das ist zwar Blödsinn, denn der Musikindustrie geht es noch immer relativ gut. Aber was denkt man sich, wenn man versucht, einem Käufer eine „Best Of‘ von George Michael zu verkaufen, die fast deckungsgleich mit den schon veröffentlichten Alben ist? Und wieso sind auf allen Compilations dieselben Songs drauf: jene, die jeder kennt, die den ganzen Tag im Radio laufen, in der Kneipe und im Kino? Natürlich, weil die Leute immer nur das wollen, was sie schon kennen.
Und stimmt das vielleicht nicht?
Statistiken und Umfragen belegen, daß es der Musikindustrie in letzter Zeit tatsächlich gelungen ist, eine breitere Käuferschicht anzusprechen. Zwar scheint sie gleichzeitig den Kontakt zur Kernzielgruppe, den etwa 1,5 Millionen Vielkäufern, Ungarn zu verlieren, aber wo gehobelt wird, feilen eben Späne. Könnte man sagen. Muß man aber nicht Denn es geht auch anders. Ein Beispiel wäre der Jazz-Bereich von Motor Musia Da hat ein Musik-Fan mit Sachkenntnis, Risikofreude und viel guter Musik aus einem defizitären Zweig der Polygram einen erfolgreichen gemacht. Es geht also. Und da wir gerade in Hamburg sind: Die Independent-Kette Zatdoz hat dort kürzlich eine dreistöckige Buch- und CD-Filiale eröffnet, die, nett eingerichtet und nicht nur an den Charts orientiert, durchaus von „Borders“ beeinflußt sein könnte – am ersten W>chenende war der Laden übrigens praktisch teergekauft. Das geht also auch.
Es besteht folglich kein Zweifel daran, daß die Musikindustrie, ebenso wie der Handel, die Möglichkeit hätte, Qualität von Produkt und Verkauf zu verbessern – ein Klassiker des Wettbewerbs. Wenn das nicht geschieht, kann es dafür eigentlich nur eine Erklärung geben: Man hält den Sleeper für einen totalen Idioten.
Aber wer würde so etwas denken? Natürlich die Marketing-Spezialisten! Denn die schließen bekanntlich ja immer von sich auf andere.