PETER GABRIEL

„New Blood“ – DAS Rolling-Stone-SPECIAL

DER BUDDHA VOM SOLSBURY HILL

Die Pop-Experimente sind vorbei – Peter Gabriel singt heute mit Orchester, betreibt Netzprojekte und lebt nach seiner ganz eigenen Uhr. Ein Treffen im Zeitloch.

Wenn damals bei Genesis, in der ersten Hälfte der Siebziger, mal wieder umständlich die zwölfsaitigen Gitarren nachgestimmt werden mussten, erzählte Peter Gabriel auf der Bühne kleine Märchen. Zum Zeitschinden, auswendig gelernt, um bloß nicht vor Publikum spontan sein zu müssen. Später, in den Achtzigern, in der Ära der größten Soloerfolge, hielt sein Management ihn konsequent von Talkshows fern, trotz vieler Anfragen. Weil allen völlig klar war, dass Peter Gabriel, der große Musiker, Soundforscher, Sänger, Innovator und Menschenrechtsaktivist, in öffentlichen Interviews keinen vorteilhaften Eindruck machte. Nervös, vermurmelt. Einen irreführenden Eindruck. Denn man musste ihm ja andererseits nur eine Football-Uniform anziehen, ihn in ein Koboldkostüm oder einen riesigen Plastikball stecken, die Videoclip-Kamera anwerfen – und die Show ging los.

So gesehen hat Peter Gabriel es mit 61 Jahren endlich geschafft, das physische Erscheinungsbild seinem Kommunikationsverhalten anzupassen. Die Stirnglatze, den Kinnbart, den Bauch, der ihn noch buddhahafter macht. Und wenn er so vor einem sitzt, mit dunkelblauem Hemd und Filzweste, die er bald ablegt, und einem Hotel-Whiskyglas voller Fencheltee, und dann zu reden beginnt, im stetigen Murmelton, meditativ und durchaus sympathisch, aber eben so wahnsinnig relaxt und provozierend ruhig, dass selbst die Klimaanlage lauter ist – dann erst begreift man langsam, warum die normalen Einheiten der Zeitrechnung und popkulturellen Schlaggeschwindigkeiten für diesen Mann nicht gelten.

Ein Eremit, das schön blöde Klischee, ist er deshalb nicht. Ehemalige Mitmusiker berichten, dass Gabriel – seit er eine kurze Phase des Popstar-Hochmuts Anfang der Neunziger überwunden hat – einer der kontaktfreudigsten Menschen im Geschäft sei, sich mit früheren Sessionleuten zum Essen trifft, wenn er in der Stadt ist, und mit seinem ehemaligen Plattenboss Richard Branson in Urlaub fährt.

Es sind mehr die Fans und Hörer, die sich manchmal vom ihm vernachlässigt fühlen. Gabriels letztes Album mit eigenen, neuen Songs stammt von 2002. Nachdem er Anfang 2010 „Scratch My Back“ veröffentlichte, eine mit klassischen Musikern eingespielte Sammlung von Coverversionen, ist nun „New Blood“ erschienen, wieder eine Orchesterplatte, dieses Mal mit 13 von Gabriels eigenen, bereits bekannten Stücken. Eine Zweitverwertung der Arrangements, die er und der Musiker John Metcalfe für die Tour zum „Scratch“-Album erarbeitet hatten (von der es nun auch einen DVD- und Blu-ray-Mitschnitt gibt, „New Blood/Live In London“).

Und – mangels neuer Songs – ein Anlass, um die Karriere des Peter Gabriel noch einmal im Ganzen zu rekapitulieren. Auf dem Sofa, mit dem Buddha, im Hotel in Düsseldorf. Wo man natürlich gleich an seine zwei deutschen Alben denken muss, 1980 und 1982 erschienen, direkte Übersetzungen seiner dritten und vierten Soloplatte, mit Highlights wie „Schock den Affen“ und „Und durch den Draht“.

Peter Gabriel, ist denn noch etwas übrig von dem Deutsch, das Sie für Ihre zwei deutschsprachigen Alben lernen mussten?

(auf Deutsch) Nur ein bisschen! (wieder auf Englisch) Etwas mehr kann ich schon noch, aber wenn man nicht regelmäßig trainiert, verschwindet das ja alles wieder.

Das habe ich mich immer gefragt: Warum haben Sie damals eigentlich ausgerechnet Deutsch gesungen?

Ganz einfach: Als ich die Idee für das Experiment hatte, eines meiner Alben zusätzlich in einer fremden Sprache aufzunehmen, schrieb ich alle nationalen Vertretungen meiner Plattenfirma an. Und die Einzigen, die überhaupt antworteten und Interesse zeigten, waren die Deutschen! Französisch oder Italienisch wäre mir natürlich lieber gewesen – aber es lief dann eben auf Deutsch heraus. Ich muss mich nachträglich für meine schlechte Aussprache entschuldigen, vor allem beim ersten der zwei Alben. Beim zweiten war ich schon besser im Training.

Es war jedenfalls eine erfrischende Alternative zum deutschen Schlager, wenn man Sie 1980 im Radio hörte: „Krieg muss man schwänzen, Spiel ohne Grenzen.“ Viele hörten zum ersten Mal im Leben eine elektronische Drum-Maschine.

Für mich war das damals auch neu. Mein erstes elektronisches Drum-Kit musste ich noch selbst zusammenbauen, das hatte mir unser Keyboarder Larry Fast empfohlen. Kurz danach kam die erste programmierbare Drum-Maschine von Roland, und für mich war das wie eine Revolution: dass man plötzlich die Grooves selbst machen konnte, und dann liefen und liefen sie. Man musste nicht mehr warten, bis der Schlagzeuger vom Teetrinken oder vom Klo zurückkam. Man konnte einfach weiterspielen.

Das war ohnehin die Zeit, in der Ihre Musik soundmäßig vielseitiger wurde. Genesis waren im Kern ja eine klassische Rockband mit Gitarre, Bass, Schlagzeug – aber ab Ihrer dritten Soloplatte hört man deutlich, dass Sie davon weg wollten. Der Sound wurde so wichtig wie der Song.

Das hatte vor allem mit der Entwicklung der Technologie zu tun. Mit all den kleinen Maschinen, die es plötzlich gab, und den ers-ten Samplern. Ich war immer ein Technik-Freak, ich liebe das Gefühl, wenn mich neue Apparate an unbekannte kreative Orte führen. Es heißt immer, die Beatles hätten mit „Sgt. Pepper“ diese Bewegung losgetreten. Aber so richtig los ging es erst später, als die Technik es erlaubte, völlig eigene Sounds zu kreieren, die nichts mehr mit realen Instrumenten zu tun hatten.

„Sgt. Pepper“ ist im Vergleich dazu noch relativ konventionell.

Ja, aber es war trotzdem der Beginn. Es war die Platte, die uns das Fliegen beibrachte. Und wenn man das erst mal gelernt hat, kommt man ganz schnell überall hin.

Wann fing das bei Ihnen an? Wann stand der Sound bei Ihnen im Mittelpunkt?

Das dritte Album (von 1980, Anm. d. Red.) veränderte in der Hinsicht alles für mich. Damals hatte ich den ersten Sampler und die erste programmierbare Drum-Maschine. Zum ersten Mal konnte ich wirklich selbst bestimmen, wie meine Kompositionen am Ende klangen. Noch beim zweiten Album hatte ich viel zu wenig Zeit darauf verwendet, das zu entwickeln.

Das bedeutete aber auch, sich von der Vorstellung zu lösen, dass man im Studio Teil einer echten Band ist.

Natürlich. Das war ja auch immer eine Geldfrage, weil man die anderen Musiker die ganze Zeit dabeihaben muss und ich gerne langsam arbeite. Wenn man allein ist, kann man es sich leisten, langsam zu arbeiten und viel auszuprobieren. Ich fand das wunderbar: Ich konnte zum Beispiel den Bass-Part von „Big Time“ (vom Album „So“ von 1986) am Keyboard entwerfen, das dann an Tony (Levin, den langjährigen Bassisten Gabriels) weitergeben, und er hauchte dem Ganzen Leben ein. Diese Freiheit habe ich gleich genossen: alles selbst bestimmen und definieren zu können, Percussions, Schlagzeug, Bass … Manchmal hatten die Mitmusiker dann trotzdem die besseren Ideen.

Mit einem 46-köpfigen Orchester zu arbeiten, wie Sie es auf Ihrem neuen Album „New Blood“ wieder tun, ist eine sonderbare Mischung aus beiden Konzepten: Man ist als Sänger zwar Teil eines riesigen Ensembles, aber es gibt eine Partitur, in der alles schon festgeschrieben steht. Man kann nicht sonderlich spontan sein.

Lustigerweise hat unser Arrangeur John Metcalfe vor einiger Zeit ein faszinierendes Projekt gestartet: Zusammen mit einem anderen Komponisten schrieb er die Musik quasi live vor Ort, während die Musiker sie spielten. Sie hatten statt Notenständern Computerbildschirme, die zwei Komponisten saßen an der Seite der Bühne, fügten neue Phrasen hinzu, formierten Noten zu Loops, die dann genau so gespielt wurden. Sehr cool. Und eben doch sehr spontan.

Haben Sie ihn deshalb für Ihr Orchester-Coverversionen-Album „Scratch My Back“ von 2010 verpflichtet?

Nein, nicht deshalb. Aber man sieht daran schon, dass dieser Mann anders denkt als die anderen. Überzeugt haben mich die vielen Arrangements, die ich von ihm hörte: sparsam, zeitgemäß. Die Idee, auch noch eine Rockband zum klassischen Orchester dazuzusetzen, kam dann auch gar nicht erst auf. Weg mit den Gitarren, dem Schlagzeug. Lieber ein Experiment versuchen, bei dem die Musik zwischen pompös und karg changiert und auch zeitgemäße Einflüsse in sich aufnehmen kann.

Allerdings ist „New Blood“ am Ende sehr pflegeleichte Musik, weniger verstörend als die Originale der Songs. Eine Platte, die man auch auflegen kann, wenn man Gäste zum Essen da hat.

Nein, finde ich überhaupt nicht. „Intruder“ und „Rhythm Of The Heat“ zum Beispiel würde ich überhaupt nicht so beschreiben. Es gibt schon angenehme Passagen, aber durchweg easy listening ist es nicht. Für mein Empfinden ist es eher difficult listening.

Mussten Sie darauf bewusst Wert legen? Um mit dem Orchester nicht zu seicht zu werden?

Das Projekt stellte seine eigenen Gesetze auf, denen es dann gehorchen musste. Die ausgewählten Songs sollten ein gewisses Potenzial in sich tragen, einen Ansatzpunkt für das Orchester bieten, eine Projektionsfläche für die musikalischen Farben, die diese Instrumente mit sich bringen. Es ging durchaus darum, jede Tendenz zum easy listening zu unterbinden.

Die Mehrheit der Songs, sieben von 13, stammt von nur zwei Alben: vom vierten, unbetitelten Soloalbum von 1982 und von „So“, Ihrem Hitalbum von 1986. Warum dieses Übergewicht?

Zufall. Von welchen Platten die Stücke stammen, habe ich nicht registriert. Mir ging es um Texturen, um ein gewisses Entwicklungs- und Entfaltungspotenzial. Können wir daraus irgendetwas Interessantes mit dem Orchester machen? Da habe ich natürlich automatisch die konventionelleren Strophe-Refrain-Stücke übergangen. Kein „Sledgehammer“, kein „Games Without Frontiers“, kein „Big Time“. Es sollte eine atmosphärische Reise werden. Kein Hitprogramm.

Aber „Sledgehammer“ wäre schön gewesen!

Wir hatten es zuerst drin. So halb, als kleinen Gag. Wir wollten die Shows mit den ersten Takten von „Sledgehammer“ eröffnen, dann sollte ich auf die Bühne kommen, das Stück abbrechen und richtig anfangen. Bei der ersten Show haben wir das gemacht. Aber es kam zu gekünstelt rüber, deshalb ließen wir es schon beim zweiten Konzert wieder bleiben.

Glauben Sie nicht, dass Ihre Fans lieber mal wieder ein paar neue Stücke gehört hätten als die bekannten Songs?

Wahrscheinlich schon. Ich wollte eigentlich auch keine weitere Coverplatte machen. Aber als wir mit „Scratch My Back“ auf Tour gehen wollten (dem Album von 2010, auf dem Gabriel Songs anderer Künstler mit Orchesterbegleitung coverte), hatten wir zu wenig Material für zweieinhalbstündige Konzerte. Es lag also nahe, noch einige meiner eigenen Stücke ins Programm zu nehmen, und bei einigen erkannte ich gleich hochinteressante Möglichkeiten: Bei „Rhythm Of The Heat“ zum Beispiel kam die Idee, afrikanische Trommeln mit den Orchesterinstrumenten zu kombinieren, das gab es meines Wissens nach so noch nie. Meine Begeisterung wuchs, Johns Arrangements wurden absolut großartig. Am Ende dachte ich mir: Das müssen wir aufnehmen! Es wäre idiotisch gewesen, all diese tollen Musiker auf einem Haufen zu haben und das nicht zu dokumentieren. Aber wenn ich im Januar wieder nach Hause komme, werde ich neue Sachen machen. Darauf freue ich mich jetzt schon.

Gibt es schon konkretere Pläne?

Ich habe Massen von Ideen und angefangenem Material. Es kann aber auch sein, dass ich mit etwas ganz Neuem anfange, keine Ahnung. Im Januar werden wir sehen.

Ihr letztes Album mit neuen Songs, „Up“, haben Sie vor zehn Jahren gemacht.

Ja, es sind auch schon wieder zehn Jahre. Klingt okay für mich! Wissen Sie, mir geht es darum, ein interessantes Leben zu führen, die Sachen zu machen, für die ich brenne. Einer der Gründe, warum ich mit 61 noch hier sitzen und mit Ihnen reden kann, ist, dass ich stets jede Hektik vermieden habe. Kollegen, die die ganze Zeit im Album-Tour-Album-Tour-Zyklus leben, wissen doch irgendwann nicht mehr, worüber sie ihre Texte schreiben sollen.

Sie sind immer so gelassen? Auch privat und bei der Arbeit an Ihren Wohltätigkeitsprojekten?

Ich bin nicht notorisch langsam, falls Sie das meinen. Und natürlich habe ich auch manchmal Deadlines einzuhalten. Zum Beispiel, wenn ich einen Film-Soundtrack einspiele, was ich sehr gerne mache. Da bin ich wie ein Angestellter, der seinen Beitrag pünktlich abliefern muss. Bei meinen eigenen Sachen nehme ich es mir aber heraus, so lange zu brauchen, bis alles fertig ist.

Je schneller die Zeiten und Informationsströme werden, des-to mehr Reibung müssten sie spüren.

Ja. Gestern war ich in Turin, und da gibt es das Slow Food Movement, die Gegenbewegung zum Fast Food. Und ich glaube, ich gehöre zum Slow Music Movement!

Beschweren sich denn manchmal Leute, weil Sie alles zu relaxt angehen?

Nein. Das ist ja einer der großen Vorteile davon, Herr der eigenen Geschicke zu sein: Wenn es den anderen nicht passt, wie es bei mir läuft – dann dürfen sie gerne jederzeit ihre eigenen Projekte starten.

Ist die Musik gegenüber Ihrem Engagement für Menschenrechte in den Hintergrund getreten?

Alles ist gleich wichtig für mich: Musik, Technologie, Wohltätigkeitsprojekte. Alle drei Sachen liebe ich, und es kann vorkommen, dass ich meine Arbeitszeit gleichmäßig auf alle drei Bereiche verteile. Da bleibt also schon rein rechnerisch weniger Zeit im Studio und beim Songwriting, das verlangsamt die Dinge zusätzlich.

Sie haben 1993 mit „Xplora1“ eine der ersten Musik-Multimedia-CD-ROMs veröffentlicht, Sie haben im Jahr 2000 einen Download-Service eröffnet …

Zwei Jahre vor iTunes!

… aber gibt es denn heute noch denkbare Projekte in dieser Richtung für Sie? Gibt es mittlerweile nicht schon alles?

Nein, es gibt immer noch Neues! Eines unserer letzten Projekte ist zum Beispiel die Internet-Empfehlungsmaschine thefilter.com, die dem Benutzer auf Seiten wie Dailymotion oder NBC nach individuellen Kriterien Videos oder Artikel vorschlägt. Je größer die Masse an Informationen oder Entertainment ist, auf die wir Zugriff haben, desto dringender brauchen wir solche Filter, die das Passende und Relevante für uns auswählen. Und nicht zu vergessen: Es muss sichtbar bleiben, nach welchen Kriterien gefiltert wird. Zu dem Thema gibt es einen sehr guten TED-Talk (Video-Blogs der jährlichen TED-Technologie-Konferenz), „The Filter Bubble“ von Eli Pariser.

Ich dachte, Google-Algorithmen wären streng geheim.

Es ist so: Wenn Sie und ich beide „Ägypten“ bei Google eingeben, bekommen Sie vielleicht lauter Meldungen über die arabische Revolution, und ich bekomme nur Zeug über Ferienreisen und die Pyramiden. Keiner weiß, warum wir genau die Informationen bekommen, die wir bekommen – aber genau das sollte transparent bleiben. Es sollte möglich sein, dass wir selbst die Kriterien justieren und steuern, also selbst entscheiden, ob wir mehr Revolution oder mehr Urlaubstipps wollen. Außerdem bin ich an einem Projekt beteiligt, in dem Wörter in kleine Videoclips umgewandelt werden, mit dem Ziel, eine Art Videosprache zu erfinden. Leider musste ich das unterbrechen, um nach neuen Geldgebern zu suchen …

Jetzt können wir uns langsam vorstellen, warum es mit den Platten immer so lange dauert.

Aber ich habe ein sehr interessantes Leben und treffe Menschen aus ganz vielen verschiedenen Kontexten und Wissensfeldern! Das ist eines meiner Lebensziele. Das sollte es eigentlich für jeden sein.

Eines der Konzerte Ihrer „Scratch My Back“-Tournee wurde auch für Kino und DVD gefilmt, sogar in 3-D. Wenn man sich das anschaut und anhört, das edle, erstklassige Orchester, das gepflegte Hochkulturambiente … Geht in einem so bourgeoisen Set-up nicht verloren, was Ihre Songs früher mal ausgesagt haben?

Für mich selbst fühlt sich eine solche Performance viel gefährlicher und riskanter an als ein normales Popkonzert! Weil es nun mal Neuland ist, das wir damit ausgelotet haben. Ich weiß, dass schon viele Leute mit Orchestern aufgetreten sind, aber für mich persönlich war es eine echte Mutprobe. Es war etwas Neues, Frisches. Als wir alle Rockband-Elemente strichen, war das für mich so, als hätte ich meine Krücken weggeworfen. Und müsste sehen, dass ich auch ohne sie laufen kann.

Aber fühlt sich das für einen ehemals subversiven Popkünstler denn gar nicht steril an, plötzlich vor einem Publikum und einem Orchester zu stehen, die Abendgarderobe tragen?

Die Musiker trugen gar keine Anzüge. Man hatte ihnen nur gesagt, sie sollten sich schwarz kleiden. Das hatte nichts mit den steifen Konzertabenden zu tun, die ich früher mit meinen Eltern besucht habe. Das Orchester war da, weil es hervorragende Musik macht und nicht wegen irgendwelcher Formalitäten oder bourgeoiser Riten. Das kam mir überhaupt nicht so vor.

Gab es denn jemals eine ernsthaft rebellische Motivation für den Musiker Peter Gabriel?

Ja, natürlich. Schon als Kind, wenn ich Ärger oder Streit mit meinen Eltern hatte, bin ich manchmal ins Musikzimmer gegangen, habe die Tür zugeknallt und so hart wie möglich in die Klaviertasten gehauen. Es gab Songs wie „The Knife“ aus der Genesis-Zeit (vom Album „Trespass“ von 1970, ein für die Band untypisch krachiges Stück). Und „Biko“ (über den getöteten südafrikanischen Aktivisten Stephen Biko) ist ein Song, der Gedanken und Ideale transportiert, die man durchaus rebellisch nennen kann. Für die eher psychologischen Lieder in meinem Werk gilt das auch, obwohl es da mehr um persönliche und weniger um soziale Aspekte geht. Heute äußern sich meine politischen Impulse natürlich mehr in Projekten wie Witness.org (bei dem es darum geht, dass Zeugen von Menschenrechtsverletzungen die Fälle in Film und Fotos dokumentieren) und theelders.org (einem von Gabriel mitinitiierten Think Tank) und weniger in meinen Songtexten.

Es geht um praktische Hilfe, nicht mehr um Denkanstöße.

Es geht darum, die Widerständigen zu bewaffnen! Während der Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und zuletzt in Syrien spielten YouTube-Videos eine gewaltige Rolle, und viele der Leute, die sie hochluden, waren von unserer Witness-Gruppe geschult worden. Derzeit bieten wir auch, in Verbindung mit dem sogenannten Guardian Project, Software und Schulungen an, wie die Leute ihre eigenen Gesichter auf Fotos verpixeln und ihre E-Mail-Adressen verbergen können. Denn obwohl Filme und Fotos auf sozialen Netzwerken ein mächtiges Werkzeug der Demokratie geworden sind, ist die Gefahr groß, dass die Aktivisten sich dadurch selbst ans Messer liefern. Dagegen arbeiten wir an. Also: Auch wenn die Musik wenig rebellisch wirkt, gibt es in meiner Arbeit immer noch große Herausforderungen!

Wer waren denn Ihre revolutionären Idole als Teenager?

Lennon war sehr wichtig für mich, überhaupt die Beatles. Und, auf andere Art, Spike Milligan (irischer Komiker, Schriftsteller und Musiker), wegen seiner surrealistisch-dadaistischen Herangehensweise an die Dinge. Bei ihm war immer alles möglich, jede Überraschung. Und das hatte etwas ungeheuer Befreiendes. Überhaupt, Humor finde ich sehr wichtig … (lacht, weil er an dem Punkt gerade so lange und bierernst referiert hat)

Wie fanden Sie eigentlich Punk? Genesis galten den Punks doch als Feindbilder.

Lustig. Weil ausgerechnet der Held von „The Lamb Lies Down On Broadway“ eine Art Proto-Punk-Figur war, obwohl die Texte für die Platte 1974 geschrieben wurden und es da noch gar keinen Punk gab. Ein Puerto Ricaner, der auf den Straßen New Yorks rumhängt – das ist natürlich auch eine „West Side Story“-Referenz, aber es ging mir vor allem darum, unsere Musik relevanter, dringlicher, urbaner zu machen. Weg vom Ländlichen, Pastoralen.

Aber die Ankunft der Sex Pistols war doch ein etwas lauteres, heftigeres Statement. Wie fanden Sie die damals?

Ich sah sie bei ihrem zweiten Auftritt im 100 Club in der Oxford Street. Nur zufällig, denn ich war eigentlich von ihrer Vorgruppe zum Konzert eingeladen worden. Viele glauben, der Club wäre damals gestopft voller hipper Leute gewesen, aber es waren nur ungefähr 30 Zuhörer da. Ich fand Johnny Rotten als Typen sehr interessant. Aber sie behandelten die besagte Vorgruppe nicht besonders nett – und ich finde, dass man daran viel über eine Band ablesen kann. Daran, wie sie ihre Vorgruppe behandelt.

Wurden die Sex Pistols überbewertet?

Natürlich haben sie die alten Machtverhältnisse gesprengt, haben allen gezeigt, dass jeder Musik machen kann. Wie immer bei solchen Gezeitenwechseln gehört es da natürlich mit dazu, dass das verachtet und zertrampelt wird, was vorher dagewesen war. Aber die Musik fand ich insgesamt doch sehr enttäuschend. Daran war nichts Innovatives. Abgesehen von der Person, die Johnny Rotten auf der Bühne verkörperte, war das doch 0815-Rock’n’Roll. The Clash fand ich wesentlich interessanter als die Pistols.

Apropos Rock’n’Roll: Genesis wurden im März 2010 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Sie sind nicht zur Feier erschienen.

Weil sie drei Tage vor dem Start meiner Orchester-Tour stattfand. Wir hatten sehr wenig Zeit zum Proben, und wenn man mit so vielen Musikern auf Tour geht, fängt die Uhr sehr laut zu ticken an, sobald man alle an einem Ort beisammen hat. Die Reise nach Amerika hätte mich mindestens zwei Tage gekos-tet. Das ging einfach nicht. Sonst wäre ich hingegangen!

Viele Leute denken ja immer noch sofort an Genesis, wenn sie den Namen Peter Gabriel hören. Wie ist das bei Ihnen – wie oft denken Sie noch an Genesis?

Nicht sehr oft. Das ist so ähnlich wie … Wie oft denken Sie denn an Ihre Schulzeit zurück? Sie gehört zum Aufwachsen dazu, man hat schöne und schlechte Erinnerungen – aber es beschäftigt einen doch nicht mehr wirklich, oder?

Geht es Ihnen dann nicht auf die Nerven, wenn alle immer danach fragen?

Nein. Es gab eine Zeit, in der ich explizit nicht über Genesis gesprochen habe, weil ich mir dachte: Okay, ich bin jetzt schon seit einiger Zeit ein Solokünstler, und genau darüber will ich reden. Aber das liegt heute hinter mir. Ich betrachte Genesis, wie gesagt, als eine Phase meines Erwachsenwerdens. Ich habe überhaupt kein Problem mehr damit.

Dann kommt die Speisekarte vom Zimmerservice, Peter Gabriel bestellt Pilzrisotto, Tomatensuppe, Caesar Salad, „ohne Fleisch“, das sagt er auf Deutsch. Zwei Telefoninterviews ständen noch an, sagt die britische EMI-Begleiterin – wunderbar, meint Gabriel, die könne er ja im Bett liegend führen.

Und wie er so den Gang zu seinem Zimmer entlanggeht, der alte Buddha, der watcher of the skies, da kommt einem „Solsbury Hill“ in den Kopf, 1977 sein erster Solosong nach Genesis und 2011 das letzte Stück auf „New Blood“. In dem der Protagonist auf dem Hügel in Somerset die göttliche Offenbarung empfängt, die Weisung, niemals dem zu folgen, was die Freunde und der Rest der Welt ihm einreden: „Son, grab your things, I’ve come to take you home!“ Es war wohl nicht Gott, dessen Stimme Peter Gabriel da oben gehört hat. Sondern seine eigene. Und er hat sich verdammt gut beraten damit.

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