Pet Shop Boys: Pop-Touristen im Mitklatsch-Land
Das exklusive Fototagebuch der Pet Shop Boys: Eine Winterreise nach Erfurt zu "Wetten, dass...?" Text und Bilder von Neil Tennant und Chris Lowe
Ein Engländer fühlt sich erst dann wirklich frei, wenn er im Ausland ist. Ein kluger Autor hat das geschrieben, dessen Name uns gerade nicht einfällt – und er hat recht. Das ist einer der Gründe, warum wir, die Pet Shop Boys, so gerne nach Deutschland reisen: Wenn wir hier sind, lastet spürbar weniger Verantwortungsdruck auf uns. Wir genießen die Geräumigkeit einer Stadt wie Berlin, die in krassem Gegensatz zur Enge und Gedrängtheit Londons steht. Und wir fühlen uns nicht so überwacht. In England bemerkt man überall die Kameras, die jede deiner Bewegungen in eine Datenbank füttern. In deutschen Städten spürt man nichts davon. Wahrscheinlich sind sie dort einfach besser versteckt.
Daher kam es uns sehr gelegen, als uns das ZDF für Ende Februar als musikalische Gäste zur Sendung „Wetten, dass…?“ nach Erfurt einlud. Noch in unserer frühen Zeit gab es fast überall zahlreiche TV-Shows, in denen Pop ganz selbstverständlich als Massenkultur gefeiert wurde – aber der Durchbruch von MTV hat Musik im Fernsehen bizarrerweise zum Nischenphänomen gemacht. Deshalb lieben wir die wenigen noch existierenden Sendungen wie „Wetten, dass…?“: Dass die Pet Shop Boys jede Gelegenheit wahrnehmen, um vor so vielen Menschen wie möglich zu spielen, dürfte bekannt sein.
1988 traten wir bei einer Award-Show im bundesdeutschen Fernsehen auf und grüßten in der Dankesrede „unsere Fans in der Schweiz und in Ostdeutschland“. Daraufhin kam am nächsten Morgen eine seltsame Nachricht: Das DDR-Fernsehen lud uns kurzfristig zur Sendung „Ein Kessel Buntes“ ein. Wir mussten absagen, waren aber geschmeichelt. Kürzlich erzählte uns sogar die Tochter von Michail Gorbatschow, sie sei mit unserer Musik aufgewachsen – was bedeuten würde, dass in den 80er-Jahren im Kreml die Pet Shop Boys liefen. Ob der damalige Ostblock die Anti-Thatcher-Botschaft von Songs wie „Shopping“ oder „Kings Cross“ vielleicht besser verstanden hat als der Rest der Welt?
So gesehen war die Zugfahrt von Berlin nach Erfurt eine Reise ins Heartland unserer Band. Natürlich nahmen wir uns den Luxus heraus, schon am Abend vor der Sendung zu kommen, um genug Zeit für ein wenig Tourismus zu haben. Das ist mit das Schönste daran, ein weltweites Publikum zu haben: Mit der Zeit lernt man viele verschiedene Städte sehr gut kennen. Obwohl es da auch Missverständnisse geben kann, wie neulich in Madrid. Den ganzen
Abend suchten wir ein bestimmtes Restaurant – bis wir merkten, dass wir die Städte verwechselt hatten. Das Lokal, in das wir wollten, ist in Barcelona.
Sicherheitshalber hatten wir uns über Wikipedia bestens auf Erfurt vorbereitet, gingen gleich zur Krämerbrücke. Wir sahen die hässlichen kleinen Napoleons in den Souvenirläden, begegneten Johann Sebastian Bach, tranken in einem Cafe am Dom lokale Getränke (Chris nahm Bier, Neil bestellte Weißwein). Dass Martin Luther hier ins Kloster ging, ist Teil unseres Allgemeinwissens: Neil spielte als Kind in einer Schulaufführung von John Osbornes „Luther“ mit. Und er weiß noch, dass es da dauernd irgendwie um Erfurt ging.
Als wir am Samstag gegen 15 Uhr 30 in der Messehalle ankamen, probte unser Ballett schon fleißig. Die zehn asiatischen Tänzer, die bei „Go West“ über die Bühne marschieren sollten, waren uns kurz davor von der Eventagentur von Detlef D! Soost vermittelt worden – auch er scheint in Deutschland ein TV-Star zu sein. Die großartige Kulisse, die das ZDF für uns gebaut hatte, lehnte sich eng an unsere Performance bei den Brit Awards 2009 an: Damals bekamen wir die Auszeichnung „Outstanding Contribution To Music“ und entwickelten in drei sehr stressigen Monaten ein zehnminütiges Spektakel, das uns und die Plattenfirma – ganz im Vertrauen – eine sechsstellige Summe kostete. Die Probe ging schnell: zwei Durchläufe, halbe Stunde. Hinterher ins Hotel, kurz in die Badewanne, dann noch die Goldverleihung für unsere „Pop Art“-Compilation. Ein kurzweiliger Nachmittag, verglichen mit den Torturen, die man früher bei „Top Of The Pops“ zu ertragen hatte: Um halb elf musste man antreten, hatte vormittags und nachmittags je zwei Proben. Die verbleibenden Stunden bis zur Show schlug man notgedrungen in der BBC-Bar tot. Wir waren bei jedem unserer „Top Of The Pops“-Auftritte betrunken.
Aber seit jeder noch so obskure TV-Auftritt für alle Ewigkeiten im Internet zu stehen kommt, muss man immer aufpassen, dass nichts Peinliches passiert. „Wetten, dass…?“ lief jedenfalls hervorragend. Wir rumpelten auf der Bühne nicht ineinander, die Tänzer kamen auf den Punkt, und Neils spontaner, äußerst riskanter Einfall, das aufgestellte Mikrofon mitten im Stück in die Hand zu nehmen, kam gut an. Besonders gefreut hat uns, dass das Publikum bei „Go West“ ohne Aufforderung mitzuklatschen begann. Die Deutschen sind großartige Mitklatscher, die besten in Europa. Im weltweiten Vergleich liegen die Amerikaner allerdings doch knapp vorn.
Hinter der Bühne lief Sophia Loren an uns vorbei, sonst bekamen wir vom Rest der Show wenig mit. Direkt nach unserem Slot fuhren wir zurück in die Stadt, kehrten ins Restaurant „Zumnorde“ ein, wo wir später auch noch Bekanntschaft mit Jan Delay schlossen. Neil aß Schweinefleisch, Chris nahm Thüringer Bratwurst, ein glänzender Ausklang für einen wirklich nicht sehr stressigen Ausflug nach Erfurt und ins deutsche Fernsehen.
Als nächstes werden wir unsere Ballettmusik vollenden, dann sehen wir weiter. Fliegen die Pet Shop Boys zum Mond und spielen in Space? Kandidieren sie fürs britische Parlament? Bleiben Sie dran!