Pedro Almodovar: Torero im Kampf der Geschlechter
Ein neuer Bildband würdigt das Werk des spanischen Regiekünstlers Pedro Almodovar, sein neuer Film "Die Haut, in der ich wohne" verstört und begeistert zugleich. Lesen Sie hier eine persönliche Hommage von Andreas Kilb.
Die Party war schon einige Zeit im Gang, als das Gespräch auf Almodóvar kam. Es ging um die Frage, ob er seine beste Zeit bereits hinter sich habe, und darum, ob seine Filme eher Frauen- oder Männerfilme seien. „Frauenfilme natürlich, das ist doch klar!“, sagte eine Mittvierzigerin, die in einer Almodóvar-Geschichte sicher eine Rolle als Oberärztin oder Gefängnisdirektorin bekommen hätte. „Alle seine Hauptfiguren sind Frauen. Und seht euch an, wie viele Schauspielerinnen er entdeckt hat! Er hat Carmen Maura berühmt gemacht, Victoria Abril, Penélope Cruz. Und von Rossy de Palma hätten wir ohne ihn sicher nie etwas gehört.“ – „Du machst es dir zu einfach“, entgegnete ein jüngerer, elegant gekleideter Mann, Typ Karriereanwalt mit musischen Neigungen. „Es sind die Männer, die in seinen Filmen die dramatischsten Entwicklungen durchmachen. Der verliebte Krankenpfleger in ‚Sprich mit ihr‘. Der entlassene Gefangene in ‚Live Flesh‘. Der Ex-Sträfling Antonio Banderas in ‚Fessle mich!‘. Und dann ‚Schlechte Erziehung‘, dieser Schlüsselfilm, in
dem praktisch nur Männerfiguren vorkommen! Da, wo es bei Almodóvar ums Ganze geht, um Leben und Tod, stehen die Männer im Mittelpunkt, die Frauen sind Opfer oder Zuschauer.“ – „Ihr habt beide recht“, sagte ein Germanistikdozent mit angegrautem Bart, „aber ihr überseht das Wichtigste. Früher hat Almodóvar in seinen Filmen mit den Geschlechterstereotypen experimentiert. Er hat von Inzest, Lustmord, Transsexuellen und zwanghaften Voyeuren erzählt, er hat die Klischees aufgeblasen, bis sie platzten. Heute begnügt er sich damit, virtuoses Kunstkino mit klassischen Männer- und Frauenrollen zu machen. Und wenn er von Emanzipation erzählt, wie in ‚Volver‘, stopft er dabei der Cruz die Oberweite aus, damit sie die Machos im Publikum schön scharfmacht. Almodóvar ist vom Avantgarde- zum Edelregisseur geworden.“
So ging das noch eine ganze Weile. Und es wäre gar nicht der Rede wert, wenn in diesem Party-Talk nicht etwas zum Vorschein gekommen wäre, das schon allein für die Einzigartigkeit von Almodóvars Kino spricht. Denn der Spanier ist einer der ganz wenigen großen Regisseure – neben Lars von Trier und, vielleicht, Terrence Malick (aber das ist ein anderer Fall) –, über die man sich überhaupt noch aufregen kann. Wer streitet schon heute noch über Wim Wenders? Oder Ken Loach? Oder den wundermilden Aki Kaurismäki? Längst ist das Autorenkino, das einmal in Cannes, Berlin oder auch bei den Oscars in Hollywood für jede Art von Skandal gut war, zum ganzjährigen Museumsbetrieb mit Dauerausstellung und wechselnden Hommagen geworden.
Aber die Filme von Pedro Almodóvar – denen der Taschen Verlag nun im wundervollen Bild- und Textband „Das Pedro Almodóvar Archiv“ ein Denkmal für coffee table und Bücherschrank setzt – reißen uns immer wieder aus dieser Lethargie heraus. Sie schauen dahin, wo es wehtut: In die Unterwelt der Triebe und Süchte, die unser Leben lenken; sie reißen die Fassaden auf, sie gehen an die Grenzen und unter die Haut. Und sie lassen uns dabei auch nicht die übliche Ausrede, mit der wir viele andere Kinogeschichten von uns fernhalten – dass da einer bloß seinen ganz privaten Obsessionen und Macken folgt. Denn Almodóvar legt es darauf an, populär und konsumierbar zu sein, er hatte es von Anfang an auf Massenwirkung abgesehen. Der Erfolg von „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, des Films, der ihn vor 23 Jahren international bekannt machte, war von langer Hand vorbereitet, künstlerisch wie kommerziell. Bis heute hält Almodóvar über die Produktionsfirma El Deseo, die er mit seinem Bruder Agustín 1986 gegründet hat, die Fäden bei der Vermarktung seiner Filme fest in der Hand. Selbst die gestaffelten Starttermine in Spanien, Europa und Amerika werden genau kalkuliert.
Deshalb geht die Frage, ob er eher Männer- oder Frauenfilme dreht, an Almodóvars besonderem Talent völlig vorbei. Sein Kino ist in erster Linie Erzähl- und Unterhaltungskino, und da, wo er in seinen Geschichten die Geschlechterfrage stellt, beantwortet er sie in sehr doppeldeutiger Weise. Die Grenze zwischen männlicher und weiblicher Identität ist bei Almodóvar fließend, und die Probleme, die daraus folgen, haben zumeist wenig mit der Form der Geschlechtsorgane zu tun. Tina, die zweite Hauptfigur in „Das Gesetz der Begierde“, war früher ein Mann und hieß Tino; jetzt bildet sie mit ihrem Bruder, einem Filmregisseur, und mit dessen jungem Liebhaber ein fatales Dreieck der Leidenschaften. Auch der Vater des toten Jungen, den die Krankenschwester Manuela in „Alles über meine Mutter“ sucht, hat eine Geschlechtsumwandlung gemacht und nennt sich jetzt Lola; dass er vorher noch ein weiteres Kind gezeugt hat, löst einige der Verwicklungen aus, von denen der Film erzählt. Ignacio, der tragische Held in „Schlechte Erziehung“, träumt von einer Geschlechtsoperation; das Geld dafür will er sich durch Erpressung bei dem Ex-Geistlichen beschaffen, der ihn als Klosterschüler missbraucht hat, aber er hat wiederum die Rechnung ohne seinen Bruder gemacht, mit dem der Pater einen mörderischen Liebesbund schließt.
Am weitesten hat Almodóvar das Spiel um sexuelle und emotionale Begierden in seinem neuen Film „La piel que habito“ („Die Haut, in der ich wohne“, deutscher Kinostart am 20.10.) getrieben. Da rächt sich ein ebenso genialer wie besessener Schönheits-Chirurg (von Antonio Banderas mit einer Mischung aus Glut und kalter Berechnung gespielt) an dem Vergewaltiger seiner Tochter, indem er ihn zur Frau umoperiert und durch Hauttransplantate Stück für Stück in das Ebenbild seiner vor Jahren unter tragischen Umständen gestorbenen Ehefrau zu verwandeln versucht. Die Krankenschwester, die ihm dabei hilft, ist in Wahrheit seine Mutter – und der flüchtige Dieb, der in die Klinik eindringt und bei dem Versuch, sich an dem Geschöpf des Chirurgen zu vergreifen, von diesem getötet wird, sein Halbbruder. Und auch hier ist die Heldin, die am Ende die Initiative ergreift und sich aus dem blutigen Durcheinander befreit, ein Wesen von schwankendem, veränderlichem Geschlecht.
Das Netz, in das Almodóvar seine Helden jedes Mal einspinnt, ist so dicht gewoben, dass es eine ganze Filmlänge dauert, bis wir alle seine Feinheiten begriffen haben. Aber die Kräfte, die es zusammenhalten, sind immer dieselben: Rache, Gier, Sehnsucht. Rache, weil das, wovon Almodóvars Filme erzählen, immer auch eine Vorgeschichte hat, einen Ursprung in der Vergangenheit, von dem sich seine Figuren, so gegenwartshungrig sie auch sind, nie lösen können; und Gier, weil sie für Almodóvar wie für Hitchcock, Bergman und Buñuel – seine drei zentralen Vorbilder – die Triebfeder menschlichen Handelns schlechthin ist. In „Live Flesh“ etwa kommt beides auf geradezu lehrbuchhafte Weise zusammen. Ein unschuldig wegen Mordversuchs verurteilter Jüngling will sich nach seiner Freilassung an einem der beiden Polizisten rächen, die ihn ins Gefängnis gebracht haben, indem er dessen Frau verführt; um sein Ziel zu erreichen, geht er zunächst mit der Frau des anderen Polizisten ins Bett, wodurch er ein Eifersuchtsdrama auslöst, in dessen Verlauf der wahre Schuldige erst enthüllt wird.
Am wichtigsten aber, wichtiger als alles andere, ist die Sehnsucht. Sie bildet den Trost der Ohnmächtigen, der Verlierer, der Hausfrauen, die in erstickenden Ehen schmachten, der vereinsamten Tingeltangel-Stars, der Nonnen und Kinder – all der Geschöpfe, denen Almodóvars tiefste Zuneigung gilt und die er in seinen Filmen deshalb ins hellste Licht stellt. Da ist die Hausfrau, die es satthat, ihre von Machotum, Dealerei und Prostitution gezeichnete Familie zusammenzuhalten („Womit habe ich das verdient?“). Da ist Pepa, die Synchronsprecherin in „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, die von ihrem Geliebten verlassen wurde und sich nun an seine Stimme klammert. Da sind die Erfolgsschriftstellerin Leo („Mein blühendes Geheimnis“), die keine Lust mehr hat, Romane zu schreiben, in denen ihre eigene Wirklichkeit nicht vorkommt, und die alleinerziehende Krankenschwester Manuela („Alles über meine Mutter“), die ihren einzigen Sohn bei einem Unfall verliert und sich deshalb aufmacht, um seinen Vater zu finden. Wenn es einen Grund dafür gibt, Almodóvar einen Frauenregisseur zu nennen, dann liegt er in diesen Figuren und ihren Vorbildern im klassischen Kino. „Alles über meine Mutter“ beispielsweise ist Bette Davis, Romy Schneider und Gena Rowlands gewidmet.
Aber derselbe Almodóvar erzählt in „Sprich mit ihr“ die Geschichte des rundlichen, kindlichen Benigno, der hingebungsvoll die Komapatientin Alicia pflegt und davon träumt, als Zwerg in ihrem regungslosen Körper zu verschwinden. Und dann sind da noch Enrique und Ignacio, die beiden Jungs aus „Schlechte Erziehung“, dem am deutlichsten autobiografischen Film Almodóvars, deren Schülerliebe über den Tod hinausreicht. So findet man überall, wo man sich bei Almodóvar auf sicherem Boden glaubt, das schwankende Terrain der Zweideutigkeit. „Wenn ihr den Film mit Verstand anseht“, hat der Regisseur in einer seiner frühen, unter dem Pseudonym Patty Diphusa veröffentlichten Filmkolumnen über „Vom Winde verweht“ geschrieben, „werdet ihr ohne Schwierigkeiten erkennen, dass Scarlett eigentlich eine männliche Figur ist, die von einer Frau gespielt wird.“ Das gilt auch für Almodóvars eigene Helden. Die sexuellen Identitäten sind bei ihnen ineinander geschachtelt wie die Puppe in der Puppe. Und man erreicht nie die tiefste Schicht.
In Deutschland gilt Almodóvar als einzig legitimer Erbe von Rainer Werner Fassbinder. Das ist nur zur Hälfte wahr. Es stimmt, dass der junge Almodóvar Fassbinders Kino verehrt, dass er filmische Anleihen bei ihm gemacht und die Selbstverständlichkeit, mit der er Homo- und Transsexualität gezeigt hat, von dem deutschen Regisseur übernommen hat. Aber schon mit seinem vierten Spielfilm „Womit habe ich das verdient?“ hat sich Almodóvar von Fassbinder verabschiedet. In der Geschichte fährt ein Schriftsteller, der mit der Hauptfigur befreundet ist, aus Madrid nach Berlin, um eine ehemalige UFA-Diva zu überreden, für ihn weiterhin Hitler-Tagebücher zu fälschen. Das ist „Die Sehnsucht der Veronika Voss“, geteilt durch „Lili Marleen“, mit einer typischen Almodóvar-Pointe. Danach ist für ihn Schluss mit der Germanophilie. Sein nächster Film „Matador“ beginnt damit, dass die schlangenhafte Assumpta Serna beim Geschlechtsakt ihren Partner mit einer Haarnadel ersticht, eine Szene, die es in ihrer Drastik bei Fassbinder nie gegeben hätte. Direktheit, Wildheit, Ironie, das alles ist dem deutschen Kino bis heute fremd, leider.
Almodóvar aber hat sich weiterentwickelt, stetig und unaufhaltsam. Er zitiert jetzt nicht mehr nur Fassbinder, sondern alles, was in der Filmgeschichte gut und teuer ist, von Chaplin bis Rossellini und Cassavetes. Er hat sich zum König des spanischen Kinos gemacht, und unter den europäischen Regisseuren seiner Generation steht er als einer von ganz wenigen heute stärker da als vor zwanzig Jahren. Der Geschmack seiner Kulissen und Kostüme, die Präzision seiner Einstellungen, die Raffinesse seiner Geschichten sind im zeitgenössischen Autorenfilm unübertroffen; auch Tarantino könnte noch von Almodóvar lernen, wie man Rückblenden inszeniert.
Aber der Ruhm hat seinen Preis. Unversehens ist Almodóvar selbst zum Klassiker geworden, einer der Säulenheiligen, die man imitiert, parodiert und vom Sockel stößt. Er hat auf seine Weise darauf reagiert: Der Film, den sein Held, ein liebestoller Regisseur, in „Zerrissene Umarmungen“ dreht, ist eine Persiflage auf „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, und in „Schlechte Erziehung“ wird das Almodóvar-Frühwerk „Das Kloster zum heiligen Wahnsinn“ zitiert. Statt zwanghaft Neues auszuprobieren, sucht der Spanier Zuflucht bei sich selbst. Aber er kann nicht mehr zurück zur robusten Wildheit seiner frühen Jahre. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Rolle des Klassikers zu akzeptieren und noch besser, noch souveräner und raffinierter zu erzählen. Mit „Die Haut, in der ich wohne“ geht Almodóvar wieder ein Stück weiter auf diesem Weg. Die Szene etwa, in der Elena Anaya von Roberto Álamo in ihrem Klinikgefängnis vergewaltigt wird, spielt zu Füßen eines Gemäldes, das zu den bekannten Meisterwerken des Prado gehört, Tizians „Venus mit dem Orgelspieler“. Tizian und Almodóvar: Vor ein paar Jahren wäre diese Kombination noch undenkbar gewesen. Inzwischen wirkt sie so selbstverständlich wie der künstlerische Tango von Hitchcock und Dalí. Und das ist erst der Anfang.
Andreas Kilb ist Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das Buch „Das Pedro Almodóvar Archiv“, herausgegeben von Paul Duncan und Bárbara Peiró, erscheint beim Taschen Verlag (410 Seiten, über 600 Bilder, 150 Euro). Der Band ist auch in einer Art Edition mit von Almodóvar signiertem Kunstdruck erhältlich. Details bei www.taschen.com