Pearl Jam – Seattle, Key Arena
„You have to love these guys“, steht auf Plakaten, die überall an den Mauern der Stadt hängen. Der schlichte Satz bejubelt Seattles Stolz – das Mariners Baseball-Team. Seattle erlebe einen Baseball-Boom, vermeldet die Tageszeitung „Seattle Post-Intelligencer“ auf der ersten Seite. Darunter ist ein Foto von Pearl Jam, Seattles zweitbeliebtesten Jungs, die am Abend vorher in der Basketball-Halle der Supersonics das Auftaktkonzert ihrer ersten Tournee seit mehr einem Jahr gaben. 14 000 Karten waren innerhalb von sechs Minuten verkauft. Sold out. Der Hype ist tot, Seattle lebt.
Es ist keine aufregende oder aufgeregte Stadt, ohne Glanz, mit pittoresken Vierteln neben Lagerhallen und zweistöckigen Betonschachteln. Im Laden des lokalen Labels Sub Pop, unverhofft zum Uterus der kurzzeitigen Apotheose des Grunge als bester Rockmusik der Welt geworden, pinnen Polaroids von Heimbands wie Soundgarden oder dem Überlebenden Krist Novoselic Auch Pearl Jams Bassist Jeff Ament blinzelt mit Bierflasche von einem der überbelichteten und unscharfen Schnappschüsse. Alles wirkt vertraut und doch surreal wie die vertrackten und skurrilen Polaroids auf dem Cover von Pearl Jams neuer Platte „No Code“. An kaum einem anderen Ort hätten Pearl Jams elektrifizierte Epen entstehen können. Vielleicht noch unweit von Seattle, drüben in Kanada, bei Neil Young.
Der spielte zwei Tage zuvor in George, als Pearl Jam in Seattles Showbox-Club zu einem Gig antraten, der kurz vorher nur im Radio angekündigt worden war. In der Key Arena baumelt ein tmrror ball, und auch mit „Long Road“, einem Song aus den Sessions mit Young, verweisen sie gleich zu Beginn auf den väterlichen Inspirator: Rhythmus und Riffe schneiden wie eine Säge durch das Tosen der Menge, die erst jetzt vollständig ist Während die Fastbacks im Vorprogramm lärmten, standen viele Fans noch draußen, da die Karten des Organisators Ticket & Tours mit Codelesern entwertet wurden. Mit dem an Computer gekoppelten Telefondienst brechen Pearl Jam erstmals auf einer kompletten US-Tournee das Monopol von Ticketmaster. Ein Politikum. Vor der Arena werden Aufkleber mit dem provokanten Slogan Juck Ticketmaster Tour“ verteilt. Fight for the right to rock.
Nach dem rauh vorgetragenen „Hail Hail“ und dem ruhigen „Who You Are“ wiegelt Eddie Vedder auch verbal sein Volk gegen Ticketmaster und Microsoft auf. Als Popstar ist er ein sanfter Populist, der mit verkniffener Miene und der Ernsthaftigkeit des einstigen Eiferers Bono daherkommt Interviews hat er diesmal verweigert, da er um seine Persönlichkeit fürchtet, auch wenn er damit die Mythen um seine Person nur nährt Der Kontrollfreak formuliert Nähe wie jemand, der bewegen und doch unberührt bleiben will. Anders aber als Kommunikatoren der Klischees wie Michael Jackson, Madonna und Prince treibt ihn der Trotz gegen die Mechanismen an. Die Distanz des Leidensjungen mit den Pausbacken und Engelslocken entsteht im Büßergestus, wie er sich gebückt ans Mikrophon klammert, und durch seine sakrale Stimme in schwindelerregenden Songs wie Jeremy“, „Even Flow“oder „Go“, deren Energie entrückt zirkuliert wie bei einer esoterischen Sitzung. „There is no place like home“, sagt Vedder. Auf ihrer riesigen Bühne hat sich die Band in eine anheimelnde Nische aus Verstärkern, Kerzen, einem Lüster und Kleiderständer zurückgezogen. Und mit den kompakteren Liedern von „No Code“ rocken sie schlicht das Haus.
Unmutig reagieren die Fans, als Vedder ihnen vor dem Song „Lukin“ seine Beschaulichkeit zu sehr aufdrängt mit den Worten, „in a couple of hours, I’ll be sitting around in someone’s kitchen laughing about it all“. Es könnte die Küche von Matt Lukin sein, dem Bassisten Mudhoneys, bei denen schon Kurt Cobain unterschlüpfte, als er den Bus der Band fuhr. Bei „Alive“ zieht Vedder einen Fan zu sich herauf. Der sinkt nieder wie vor dem heiligen Geist und springt in vollendeter Pose zurück. „Smile“, das beste Stück, spielen sie nicht. Eddie aber lächelt.