Patti Smith: Walk On The East Side
Sie kamen aus Queens oder waren aus New Jersey zugereist, doch, ihr Eldorado fanden die Protagonisten des New-York-Punk in den knurrenden Eingeweiden Manhattans, in der Bowery und Lower East Side. Und im East Village, dem hedonistischen Herzen der Stadt. Hier verdichteten sich Hektik, Hunger und die schiere Lust am Anderssein zu visionärer Kunst und fiebrigem Rock'n'Roll.
Die Spannung war mit Händen zu greifen an diesem denkwürdigen Abend. Nixons Schicksal stand auf des Messers Schneide, in den Schlagzeilen war er bereits Geschichte. Und der rot blinkende Lauftext über dem Box Office der Avery Fisher Hall verhieß: „Tonite: The Patti Smith Group“. Gullys dampften, Bums bettelten, und ein langer Konvoi hupender Yellow Cabs spuckte Konzertbesucher aus. Eigentlich wie immer. Und doch ganz anders. Die Kultur-Oligarchie New Yorks hatte dem Off Off-Gesindel von der wurmstichigen Unterseite des Big Apple einen ihrer Tempel geöffnet und war auch den nobelsten Limousinen noch in angewohnt lässiger, ja nachlässiger Garderobe entstiegen. Besser weniger Schein als Sein, wenn die missratenen Söhne und Töchter anrücken. Und die üeßen,sich nicht lumpen, erschienen in zerrissenen Jeans, schwarzem Leder, ausgefransten Chucks und mit Frisuren, die keine waren und keine sein wollten. Im Foyer kollidierten die Kulturen, Uptown und Lower East Side. Ein paar laute Rastas mit Dreadlocks verkauften Schmuck, ein paar Junkies mit Connections versuchten, ihre Plätze auf der Gästeliste zu verflüssigen. Eben diesem Umstand verdankte ich mein Ticket. Mein Name war Coleman, Tyler Coleman, und er hatte mich 35 Dollar gekostet. Drinnen ging es gesittet zu, es wurde getuschelt. Aus Gewohnheit, soweit es die Gutsituierten betraf. Gesprächsstoff gab es genug. Nein, nicht Nixon. Patti Smiths Proklamationen wurden in die Runde geraunt. „This is the era in which everybody creates!“ Ein veritables Konzept, nicht neu natürlich, aber allemal diskutabel. Poetin, Prophetin, Rock’N’Roll-Mätresse: Patti Smith ließ sich prächtig diskutieren.
Doch auch die abgerissenen Fans und Freaks sprachen in merkwürdig gedämpftem Ton. Dieselben grellen Gestalten, die das East Village bevölkerten oder in der Bowery vegetierten, tagsüber unsichtbar, nachts schnorrend unterwegs, in den Straßen und Clubs ihrer Nachbarschaft, auf der Jagd nach cheap thrills? Ja, denn Arista hatte Tickets verteilt, dort wo die In-Crowd verkehrte, im CBGB’s, dem Wallfahrtsort für Drei-Akkord-Gläubige und Noise-Jünger, und im Max’s Kansas City in der Park Avenue, wo Debbie Harry kellnerte und die Velvets ihre Abschiedsvorstellung gegeben hatten. Zwar war „Horses“ von der Kritik begeistert aufgenommen worden und die Verkäufe waren beachtlich, aber nur in England. Patti Smith aus ihrem Biotop der Beatniks und Bohemians zu reißen und in das kalte Wasser der kommerziellen Konzertwelt zu werfen, schien den Label-Managern noch zu riskant. Also lud man einschlägig vorbelastete Szene-Gänger ein und drückte teure Tickets in die Hände von Dropouts. Die sich zivil zu benehmen wussten.
Das hatte sich bei William Burroughs doch ganz anders angelassen. „Rock and roll adolescent hoodlums storm the streets“, begann die Revolte der Outcasts in seiner Endzeit-Parabel „Naked Lunch“, und die Teenage Mutanten liefen Amok, leisteten ganze Arbeit Zoos und Zuchthäuser wurden geöffnet, Verwaltung und Verkehr lahmgelegt, Politik und Psychiatrie entmachtet Die Kunst wurde kopfüber in ein Säurebad geworfen und skelettiert. Eine magere Synopse nur, denn für die ausufernde Sprachgewalt von „Old Uncle Bill Burroughs“, wie sich der literarische Pate des New Yorker Untergrunds gern selbst kokett nennt, fehlt hier der Raum. Kurzum: Apocalypse wow!
Im realen Manhattan der Mittsiebziger fand die Apokalypse nicht im Publikum statt Sie wurde performiert. Punk als Religion, die Hohepriesterin dürr, knochig und androgyn – in schwarzen engen Hosen und weißem T-Shirt mit Keef-Konterfei die Gestik beschwörend, die Stimme wie in Trance. „The boy looked at Johnny“, rezitiert Patti heiser zu Lenny Kayes mählich lauter werdendem, perkussivem Saiten-Klopfen, „Johnny want to run“, Finger und Seiten finden zu Akkorden, Schlagzeug und Piano fallen ein, die Sängerin zuckt konvulsiv, springt hoch und die Band schaltet noch einen Gang höher: „Do you know how to pony?“ exorziert Smith, „like Bony Moronie?“. Hypnose! Wir sind in Wilson Picketts Land der tausend Tänze. Und im nächsten Moment in einem lichtlosen Tunnel, dann urplötzlich in freiem Fall. Die Patti Smith Group spielt ohne Netz und doppelten Boden. Amateure, gestern noch Dilettanten. Impressionistische Kadenzen, schleichende Rhythmen, wüst krachende Crescendi, ein einsam tönendes Piano, Stille, dann: Jesus died for somebody’s sins“, das Uptown-Publikum horcht auf, „but not mine“. Verstörung, no less. Am Ende des Drahtseilakts tosender Applaus. Die Künstlerin hat geblutet, sonst wurde niemand verletzt. Ich habe mich nur vergessen, kam erst Stunden nach dieser psychotischen Performance wieder zu mir. Hexerei.
Pattis Lehrmeister waren sämtlich männlich, die von ihr angebeteten Ikonen sowieso, aber auch ihre engsten Vertrauten. Der Fotograf Robert Mapplethorpe, der das Cover-Foto für „Horses“ schoss und auf dessen Label Mer Records Pattis erste Single „Piss Factory“ erschien. Der Dramaturg und Autor Sam Shepard, mit dem sie das Off-Broadway-Stück „Cowboy Mouth“ schrieb und Tisch wie Bett teilte. Oder der Künstler und Songschreiber Bob Neuwirth, Zeug und Zorro des Folk-Kosmos, dem sie Muse war und der sie in die Mysterien des Musikbetriebs einführte.
Pattis Ikonographie nahm erst spät Formen an, ihre Initiation in Sachen Sex und Rock’n’Roll erfahr sie mit 19. Die Smiths lebten in New Jersey, als Patti eines Tages ihren „Vater lautstark fluchen hörte. „I was scared silly, I never seen him so mad“, erinnert sie sich 1973 im ingeniös betitelten Bändchen „The Rise Of The Sacred Monsters“. Daddy Smith starrte angewidert auf den Fernseher und stammelte Jesus Christ!“, immer wieder, immer wütender. Die Ed Sullivan Show lief, Patti sah „five white boys as sexy as any spade, their nerves were wired and their third leg was rising. In six minutes five lusty images gave me my first glob of gooie in my virgin panties. That was my introduction to the Rolling Stones.“
Danach war nichts mehr wie zuvor. Patti tauchte in eine fremde Welt ein, die benachbarte Glamour-Metropole zog sie magisch an. Die Gedichte von Arthur Rimbaud, die Texte von Bob Dylan und die Musik von John Coltrane ergaben einen neuen Sinn. Patti versuchte sich an Jazz-Poesie, ihre Schulfreunde fanden sie schlicht und ergreifend „weird“. „Dabei war ich eigentlich gar keine Rebellin, eben nur unheilbar romantisch.“ Aus Entfremdung wurde Verzweiflung, sie trug sich zeitweise mit Suizid-Absichten, „but I woulda missed the next Stones album“.
Nach Manhattan also, den Hintereingang genommen, ein erstes Poetry Reading in St.Mark’s Place, im hedonistischen Herzen des Village, und improvisierte Auftritte in den Spelunken der 2nd Avenue; wichtige Bekanntschaften gemacht. Freundschaften geschlossen. Mit dem Beat-Poeten Jim Carroll, mit Brigid Polk aus dem Warhol-Oan, mit Tom Verlaine, der noch nicht wusste, ob er Dichter war oder Musiker. Vor allem aber mit Lenny Kaye, seines Zeichens Rock-Kritiker und Plattenverkäufer. Kaye hatte bereits eine Single veröffentlicht, unter dem Pseudonym Link Cromwell, die beiden führten nächtelange Gespräche über gemeinsame Vorbilder: Bob Dylan, Brian Jones, Velvet Underground. Nicht lange, und sie unternahmen eigene Gehversuche auf dem Terrain ihrer Idole. Enter Pianist Richard Sohl, Gitarrist Ivan Krahl und Drummer Jay Dee Daugherty, alle eher intuitiv mit ihrem Instrument vertraut als virtuos, und wie Smith und Kaye militante Verfechter des Erkenntnisprinzips learning by doing. Es folgten öffentliche Rehearsals, „Piss Factory“, dann „Horses“ und schließlich das Plazet des Kultur-Establishments in der Avery Fisher Hall.
Begünstigt wurde der unerwartete Erfolg durch zwei entscheidende Faktoren. Zum einen war das Musik-Business in einem selten erbärmlichen Zustand. Die vorherrschende Geisteshaltung der Global Players war Zynismus, der akzeptierte Dreh hieß kreativer Stillstand, gepaart mit einem Schuss Selbstparodie. Auf immer höherem technischen Niveau natürlich. Rock-Konzerte gerieten zu Materialschlachten.
Zum anderen war – nicht zuletzt bedingt durch den Split der Lokalmatadore New York Dolls – auch im hippen, coolen Kontinuum der Gegenkultur ein Vakuum entstanden, das geradezu nach Neuem schrie. Ein Ruf, der nicht überhört wurde.
Selten hat eine Stadt in so kurzer Zeit so viele aufregende, bahnbrechende Bands hervorgebracht wie New York City in den Jahren 1975 bis 1977, selten war eine urbane Musikszene so lebendig, ja fiebrig und unberechenbar. Natürlich war NYC von jeher ein Schmelztiegel von Stilen und Spielweisen gewesen. Es zieht sich ein roter Faden vom Bebop in den Jazzkellern Sohos über die Barbershop-Quartette in Brooklyn und den smart gekleideten Doo Wop-Gruppen, den Teenager-Tragödien von Dion & The Belmonts und den Brill-Building-Songschmieden bis zu den Tradewinds und ihrem „New York’s A Lonely Town“. When you’re the only surferboy around.
Und wer glaubt, danach tue sich eine Lücke auf, die nur Velvet Underground schließen konnten, hat nicht viel begriffen von dem musikalischen Puls dieser Stadt und ihrer Protagonisten.
Mitte der 70er Jahre jedoch war New York City nicht nur Brutstätte unzähliger großartiger Bands: Ramones, Television, Blondie, Talking Heads, Dictators, Heartbreakers, Electric Chairs, Richard Hell 8& the Voidoids und Suicide, um nur die Spitze des Eisbergs zu nennen. In den Katakomben der Lower East Side wurde auch eine alte Idee wiedergeboren, die dem wahren Rock’n’Roll von jeher innewohnt: Do it yourself. Manche nannten es Punk. Einer behauptet gar, er habe das erfunden. Sein Name ist Richard Hell. Und er streitet sich seither verbittert um das Copyright der Bewegung, mit einem eloquenten englischen Herren namens Malcolm McLaren.
Richtig ist, dass die Punk-Bands aus Queens, der Bronx und der Lower East Side, die ihren Frust und ihre Wut musikalisch ventilierten, in Amerika am langen Arm eines Musik-Business verhungert wären, das mit den Rabauken, Primitivisten und den kunsthungrigen Intellektuellen rein gar nichts anzufangen wusste. America couldn’t care less. New York City war, was die Musikrezeption Rest-Amerikas anging, Terra incognita. Kein Airplay, keine Charts-Aktivitäten, keine mediale Aufmerksamkeit Das Hinterland hörte lieber Kiss und die Bee Gees. Das gelobte Land lag jenseits des Atlantik.
Im United Kingdom fanden die NYC-Bands all das, was sie in der Heimat entbehren mussten. Ihre Musik wurde mit Begeisterung aufgenommen, massenhaft. Sie wurde diskutiert, dabei durchaus kontrovers. Patti Smith, die Ramones, Blondie, Television und Talking Heads waren Stars, die große Hallen füllten und tonnenweise Platten verkauften. Der Weg des Erfolgs führte von der Bowery ohne Umwege nach London, von dort mit der üblichen Verzögerung in die Metropolen Europas, und erst dann, nach Monaten und Jahren, wieder zurück in die Neue Welt. Einige schafften den strapaziösen Törn, erwarben Weltgeltung.
Kein Karrieremodell für heute freilich, seit das Leben unerschwinglich wurde im Village und an der East Side. Es sei denn, Geld spielt keine Rolle. Wie bei den Strokes.