Partei mit Visiönchen
Die gute alte SPD will sich modernisieren – und führt Online-Voting per Liquid Feedback ein. Zunächst nur in Berlin-Mitte. Ob das wirklich eine gute Idee ist?
Wenn SPDler erzählen, wie lange es bei ihnen dauert, eine gute Idee in der Partei voranzubringen, dann sollte man es sich ein wenig gemütlich machen. Vielleicht die Beine hochlegen und ein Sitzkissen benutzen – die Backen könnten einem nämlich einschlafen in den folgenden Stunden. Die bahnbrechende und leider auch einzige Erkenntnis, die aus diesem Thomas-Mann-esken Vortrag resultiert ist die, dass man als kleiner Parteimensch so gut wie gar nichts durchsetzen kann, auch wenn man gerade die Lösung für die europäische Finanzkrise auf dem Zettel hat.
Der berühmte Bürger auf der Straße kann noch weniger erreichen. Bislang hat er nur die Möglichkeit, in der Bezirksverordnetenversammlung ein paar Fragen zu stellen oder einen Bezirksvertreter in der Gegend anzuquatschen – aber: Wer macht so was schon? Es ist ja keine schlechte Idee, wenn sich die SPD nun darum bemühen will, mehr Leute zu motivieren. Wenn wir uns mal in die Zeitmaschine setzen und ins Jahr 2011 fliegen, dann erinnern wir uns, dass da die Piratenpartei mit diesem Thema eine ganze Reihe Wähler absaugen konnte. Es gab offenbar das gesellschaftliche Bedürfnis, auch mal was richtig Wichtiges zu machen. Politik! Zumindest ein bisschen. Und gerne von zu Hause aus. Aktivismus, ohne aktiv zu sein. Etwas bewegen, ohne sich selbst zu bewegen.
Und da kommen die Piraten ins Spiel. Sie bieten für die Mitbestimmung ihrer Leute eine Online-Plattform an, die sich Liquid Feedback nennt. Eine Software, die es jedem Parteimitglied erlaubt, Ideen oder Anträge online zu stellen und von anderen Parteimitgliedern bearbeiten und beurteilen zu lassen, sodass am Ende die Schwarmintelligenz den perfekten politischen Antrag auswirft. Also die Antithese zu den vielen Köchen, die den Brei verderben. So jedenfalls die Theorie. Genau dieses System möchte nun auch die SPD einsetzen. „Wir wollen die Online-Generation zu Hause abholen“, sagt Thorsten Lüthke, ein ambitionierter 45-jähriger Unternehmer. Er sitzt für die SPD in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte. „Warum es nicht einfach mal ausprobieren?“ Ein Lokalpolitiker mit einer Idee. Schön, dass die SPD schnell auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert und nun für 2013 Liquid Feedback plant. Zumindest im Berliner Bezirk Mitte. Zumindest für nachbarschaftliche Belange. Es geht Lüthke nämlich weniger um Politik als um die Gestaltung des Kiezes. Man muss nicht einmal Parteimitglied sein, sondern kann als Anwohner mit abstimmen. Die müssen sich dafür nur online registrieren und bekommen dann ihren Zugangscode per Post. Testlauf und erste per sozialdemokratischen Liquid Feedback zu entscheidende Frage wird sein: Wie soll die Turmstraße gestaltet werden? Parkbänke, Straßenbahnverläufe, Zebrastreifen. Darum soll es gehen.
Richtig verbindlich ist das Online-Voting am Ende übrigens nicht. Das letzte Wort behält sich der Bezirk vor. Man muss halt aufpassen, dass nicht plötzlich 500 Leute den Bau einer Justin-Bieber-Gedächtniskirche beschließen. Kein Wunder, dass es weder auf Landes- noch auf Bundesebene ähnlich gekaperte Zukunftsprojekte gibt. „Schon auf Bezirksebene wird das Ganze eine administrative Herausforderung“, seufzt SPD-Vordenker Lüthke.
Aber: Alle finden’s gut. Zumindest bei der SPD in Berlin-Mitte. Ein bisschen Kritik kommt – nein, nicht von der CDU – sondern von den Erfindern des Systems, den Piraten. Nicht wegen der Verletzung ihres Copyrights durch die SPD, sondern weil man beim Amt seinen richtigen Namen angeben muss, bevor man mitmachen darf. Aber auch da weiß Thorsten Lüthke einen Kompromiss: man werde Liquid Feedback an einem Projekt mit Klarnamen, bei einem anderen mit Pseudonym probieren.
Doch die Piraten selbst sind in der Frage ebenso gespalten. Immer wieder wird in der Partei gemunkelt, dass hinter diversen politischen Anträgen sogenannte Sockenpuppen stecken: Soll heißen, es werden interessengesteuerte Anträge gezielt unter falschem Namen oder Pseudonym lanciert – eben die nicht sichtbare Hand in der Socke.
Aber auch ohne den Stress der Klarnamenphobiker und Klarnamenphilen funktioniert das Liquid Feedback in der Piratenpartei nicht einwandfrei. Immer wieder gibt es Meldungen, dass nicht alle Mitglieder mit einem Zugang ausgestattet werden können. Wer dann einen Zugang hat, nutzt ihn kaum. Selbst beim Ur-Thema der Piraten, dem Urheberrecht, war die Beteiligung im Berliner Landesverband eher mau als wow: Nur rund 400 Mitglieder stimmten über den Vorschlag ab, gerade mal 10 Prozent. Änderungsvorschläge machten nicht mal ein Dutzend. Das mag an dem eher dünnen Urheberrechtsvorschlag des Ober-Piraten Christopher Lauer liegen, aber die Beteiligung bei anderen Abstimmungen sieht noch dünner aus. Knaller-Ideen sind hier ohnehin nicht entstanden, das hat sich nach einem Jahr Piraten in der Berliner Politik schon gezeigt. Die einst unfassbar hohen Zustimmungswerte sind inzwischen eingelaufen wie nach einer Kochwäsche – auf Bundesebene von 13 auf 4 Prozent.
Die Revolution ist ausgeblieben. Und so klingt auch der Vorschlag der SPD Berlin-Mitte zum Liquid Feedback ein bisschen nach gestern. Am 22. November stimmt der Bezirk über den Vorschlag ab. Ganz traditionell – per Handzeichen.