Parole Brandi: Wo sich Fuchs und Google „Gute Nacht“ sagen
Unsere Kolumnistin befindet sich auf dem Land. Für eine Städterin durchaus eine Herausforderung

Ich bin ein Stadtmensch. Wusste ich nicht über mich. Meine Eigenerzählung über mich war bisher immer, dass ich ja sooo naturverbunden bin und im Grunde mehr aufs Land gehöre als in die dreckige, artifizielle Stadt. Warum auch immer ich das gedacht haben mag, ich schließe nicht aus, dass die paar Jahre auf einer Dortmunder Waldorfschule daran mit Schuld tragen.
Jedenfalls ist es natürlich absoluter Quatsch, denn „das Land“ ist keine geschmackliche Vorliebe, es ist ein Skill-Set.
Aber der Reihe nach.
Retrofilter „Berlin“
Aus beruflichen Gründen befinde ich mich augenblicklich in Mecklenburg Vorpommern, nahe der polnischen Grenze und die Dinge sind wild, das sag ich euch.
Zunächst bemerkte ich bereits am ersten Tag die Ähnlichkeit zu Berlin in Architektur und Natur. Wirklich, die langgezogenen Kerzenbäume auf sanddurchmischtem Boden, die dornigen Hecken, das neongrüne Moos auf den Baumstämmen und dieser wunderliche Pastellfilter, der hier über allem liegt und macht, dass Landschaft und Gebäude immer ein bisschen aussehen wie durch einen Retrofilter geschickt, das alles erinnerte mich diffus an Berlin, was wiederum der Tatsache geschuldet sein mag, dass ich (wie bereits berichtet) mittlerweile in Dortmund lebe, wo optisch alles durch einen Kältefilter geht und eher die Blau- und Grüntöne hervorgehoben werden, was weder Flora, noch Fauna und schon gar nicht dem ansässigen Homo Sapiens schmeichelt.
Flugsauriervibes
Hier in Meckpomm laufen vor mir die Reiherpärchen über die Felder und staksen möglichst unauffällig und durchaus graziös auf ihren langen, dünnen Beinen im Gleichschritt davon, wenn ein Mensch sich nähert. Zuerst drehen sie einem ganz langsam den Rücken zu und tun ein paar gedehnte Augenblicke lang so, als ob gar nichts wäre, nur um dann, wenn man schon weiter gegangen ist, in Richtung ihrer in einiger Entfernung auf dem Feld stehender Artgenossen einen krächzenden Warnschrei auszustoßen und schließlich auf ihren eleganten Schwingen davonzufliegen, was schon ziemliche Flugsauriervibes hat.
Auf der Wiese nebenan grasen die Rehe und als ich die Straßen Richtung Dorf ging, kamen sie in Rudeln aus dem Wald über die Straße gesprungen, sodass mir danach weiße Flecken von ihren „Spiegeln“ (so nennt mensch das Hinterteil der Tiere), vor den Augen tanzen.
Nachts liege ich lange wach, weil die Umgebung so dermaßen fucking still ist, dass jede Regung, ob im Haus, was knackst, weil es ein altes Holzgebälk hat, oder draußen auf dem Feld an meinen verkümmerten Instinkten kratzt und mich leicht zusammenzucken lässt.
Aber wie stadtverdorben ich eigentlich bin, das musste ich vor einer Woche bei einer harmlosen Spazierrunde auf dem Fahrrad feststellen.
Still wie ein Baumarkt nach Ladenschluss
An besagtem Abend brauchte ich mal eine Pause und bin nochmal los. Es ist ja bekannt, dass Bewegung bei verkopfter Arbeit Wunder wirkt, und ich wollte mich erfrischen.
Ich fuhr, noch ganz in Gedanken bei meiner Arbeit, durch die unwirkliche mecklenburgische Abendsonne die Straße runter zum kleinen Ort, um dort den Weg über die Felder zu nehmen, die dann linker Hand wieder in den Wald führte. Die Luft war schon mild und ich dachte mir, eigentlich wäre es ja schlau, jetzt links wieder in den Wald zu fahren, um einen ordentlichen Kreis zurück zum Haus zu ziehen, dann hätte ich mal ein bisschen was vom Wald gesehen und muss nicht langweilig umkehren und alles wieder zurückfahren.
Der Weg bog an einer holzgeschnitzten, menschlichen Figur links in den Wald.
Der mecklenburgische Wald ist so ruhig wie ein Baumarkt nach Ladenschluss, das ganze Holz steht stumm da, lange, gerade Stämme auf ordentlichem Sandboden in vollkommener, das Knirschen meiner Räder aufschluckender Stille.
Ich fuhr zwischen den Bäumen entlang und blickte zwischendurch immer wieder auf mein Handy auf Google Maps, um zu checken, ob ich noch richtig war. Das war ich wohl, denn die App meinte, fahr einfach immer geradeaus und dann irgendwann wieder links, dann bist du in fünf Minuten wieder zu Hause.
Als hinter einer sanften Kurve der besagte Weg nach links auftauchte, sah ich, dass es sich um einen Trampelpfad handelte, der schwer mit dem Fahrrad zu befahren sein würde. Die Straße, auf der ich fuhr, ging weiter geradeaus, nur war da blöderweise an dieser Stelle eine Schranke, weil der Asphalt hier aufhörte.
Es gab also drei Möglichkeiten: Zurückfahren, den Holperweg in den Wald hinein nehmen oder den geraden, offiziellen Weg weiter, nur auf Sand statt Asphalt.
Ich entschied mich für letzteres.
Auftritt: Das Stadthirn
Sehr bald schon musste ich absteigen und das Rad schieben, weil die Räder sonst rettungslos im feinen Sandboden versunken wären, und ich drohte, umzufallen. Kaum war ich abgestiegen, schluckte mich die Stille des Waldes. In diesem denkwürdigen Moment schwand auch der letzte Rest Tageslicht und alles wurde dunkel. Und an dieser Stelle setzte sich der Teil meines Gehirns selbstbewusst an die Schaltstelle, der normalerweise dort sitzt, nämlich mein Stadthirn.
Wenn man in einer ungewohnten Umgebung ist und das neue Skill-Set noch nicht da, dann greift das System natürlich auf das einzig verfügbare zurück, nämlich das Skill-Set, welches für die ansonsten gewohnte Umgebung einmal gelernt wurde. Und dieses Stadthirn sagte mir folgendes: Du musst einfach nur Google Maps folgen und dich immer möglichst links halten. Du siehst ja, dass dein Haus Luftlinie nur fünf Minuten von dir entfernt ist. Also schnapp dir den nächsten Waldweg nach links und dann einfach nur noch geradeaus, dann bist du da.
Gesagt, getan.
An dieser Stelle wird es allmählich dunkel
Als die nächste Abzweigung nach links kam, ein wiesiger Pfad zwischen dunklen Fichten, schob ich das Rad diesmal beherzt hinein. Nach drei Minuten, in denen mich Zweige streiften, die ich im Dunkeln nicht sah, stand ich vor einem Zaun. Verdutzt schob ich mein Rad über den nun bereits sehr unwegsamen Pfad an dem Zaun entlang und Google Maps rechnete und meinte dann, ja, das ginge natürlich auch. Ich müsse einfach nur eine Weile nach rechts gehen, bis ich das nächste Mal links abbiegen könne. Dann seien es nur noch sechs Minuten bis nach Hause.
Sechs Minuten? Gerade waren es noch fünf, dachte ich. Aber gut. Vorsichtig schob ich weiter. Google Maps war sich seiner Sache für weitere drei Minuten sicher, aber dann, mit einem Mal, blieb es zuerst hängen und dann rechnete es und fand mich nicht mehr wieder.
Ich stand mit meinem Handy in der Hand mitten im Wald im Stockdunkeln und wartete, bis die App mir sagte, wie es jetzt weitergeht. Solange ich wartete, konnte ich ja gut und gerne auch noch ein bisschen weitergehen, dachte ich und schob.
Und dann traf ich auf einen weiteren Zaun, der mir den Weg abschnitt. Da erst wurde mir bewusst, dass ich gerade mutterseelenallein mit einem nutzlosen Handy in einem fremden Wald stand. Und ich bekam es mit der Angst.
Hier irrt Maps
Ich bin nicht stolz darauf, aber die Lücke zwischen meinem Stadthirn und dem, was ich in dieser Situation an gesundem Menschenverstand gebraucht hätte, klaffte wohl tief, denn jetzt machte ich einen schweren Fehler: Ich ließ das Rad auf dem Waldboden liegen und kletterte kurzerhand über den Bretterzaun mit Maschendraht. Google war mittlerweile zurück und zeigte zuversichtlich in diese Richtung hinter dem Zaun und ich hatte keinen Bock mehr, mich immer weiter rechts an den Zäunen entlang von meinem Zielort zu entfernen.
Was dann geschah, lässt sich vielleicht am ehesten als Szene auf dem „Blair Witch Project“ bezeichnen. Die Stille im Unterholz jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken, jedes Flügelschlagen eines Vogels traf wie durch einen Lautsprecher verstärkt auf meine Ohren und ich stolperte in wachsender Panik geradeaus, meinem Ziel entgegen. Bis ich in einen neuen Zaun lief.
An dieser Stelle hatte mich bereits die kalte Angst ergriffen und ich konnte förmlich dabei zusehen, wie ich nach und nach aufhörte, zurechnungsfähig zu sein.
Meinen Körper zog es nur noch vorwärts, als säße ein Magnet hinter meinem Brustbein und Google spornte mich an, nur noch drei Minuten, nur noch zwei, nur noch… neun! Neun?
Wie ein Tritt in den Magen wurde mir bewusst, dass ich mich schlicht verirrt hatte.
Verirrt. Im Wald.
Im Reich der Todesfeen
Vorsichtig geworden schlich ich weiter und wartete, dass mein Handy etwas anderes tat als mich zu ghosten oder zu gaslighten.
Der grauenhafte Schrei, der dann die Stille zerriss, kam von schräg rechts, von ganz nah. Hinter dem Gebüsch da drüben musste ein Tier sitzen oder auch eine Banshee, und ich rutschte umgehend innerlich zurück in eine Art Steinzeitmodus, der mir sagte:
Was auch immer das war, jetzt keine Angst haben, sonst böse-böse, Abendessen von dem da, Schlagzeile: Sängerin in Wald verschollen.
Laut brüllend (oh Mann) trat ich mit dem Fuß auf und stapfte weiter geradeaus. Google zeigte mir an, dass ich in einer Viertelstunde zu Hause sei und ich rief, von jeglichem Stolz komplett entledigt, meinen Kollegen an, der ja die ganze Zeit im Haus saß und prinzipiell darauf wartete, dass ich mal zurück kam von meinem „Abendspaziergang“.
Als ich seine Nummer wählte, dauerte es einige Sekunden bis ich verstand: Ich hatte, da wo ich war, längst kein Netz mehr.
Ich muss sagen, in so einer Situation hat die entstehende Verletzlichkeit durchaus etwas Reinigendes. Was mensch alles so denkt, was mensch so kann und meistert. Im Grunde können wir alle gar nichts mehr. Von einer im wahrsten Sinne „tierischen“ Angst durchflutet, die viel Energie kostete, von mir auf ein einigermaßen zivilisiertes Maß runter gekämpft zu werden, stand ich dort irgendwo im Wald und nicht zuletzt lähmte mich mittlerweile meine eigene Scham, ein tiefes Gefühl der Verunsicherung, dass ich es so weit hatte kommen lassen und dass ich im verdammten Mecklenburger Forst vor lauter Zäune lief und unversehens ins Reich der Todesfeen eingedrungen war.
Wald: So geht’s richtig
Als mich mein Kollege wenig später, als ich wieder Netz hatte noch über drei weitere Zäune lotste und mich mit dem Auto an einer Böschung aufsammelte, zitterte ich am ganzen Körper.
Wie schon gesagt, das Land ist ein Skill-Set.
Ich erfuhr Gottseidank erst am nächsten Tag, dass ich, ohne es zu wissen, in ein Wildschweingehege gestiegen war.
Der Förster, der mit mir feixend bei strahlendem Sonnenschein in den Wald fuhr, um das Fahrrad aus dem Unterholz zu holen, meinte, es gäbe im Grunde nur eine einzige Regel für „den deutschen Wald“ und die laute:
Bleib einfach auf den offiziellen Wegen.
Eigentlich… gar nicht so schwer.